Wenn Kardinal Ratzinger ein Student von mir wäre
Sabrina Vogt2021-03-02T09:44:58+01:00Originalvortrag von Luisa Muraro (Autorin) Wenn Kardinal Ratzinger ein Student von mir wäre
Wenn Kardinal Ratzinger ein Student von mir wäre, würde ich gern mit ihm über vieles diskutieren bezüglich seines Schreibens über die Zusammenarbeit von Mann und Frau, ihn beglückwünschen, befragen, mich distanzieren oder ihm zustimmen. Ich müsste ihn allerdings auf einen Irrtum, einen einzigen, aufmerksam machen, nämlich den, zu glauben (oder glauben zu machen), die Verschleierung der Verschiedenheit oder Dualität der Geschlechter, um seine Worte zu gebrauchen, sei eine jüngere Tendenz des menschlichen Denkens. Es handelt sich vielmehr um eine jahrhundertealte Tendenz, die in der philosophischen Tradition deutlich erkennbar ist. Mit unbestrittener Autorität erklärt dies Heidegger: Die Ontologie hat uns immer gelehrt, das Menschsein als neutral in Bezug auf die Beziehung (ich-du) und in Bezug auf die Geschlechtlichkeit (Mann-Frau) anzunehmen. Eine Neutralität, so muss hinzugefügt werden, von der die feministische Kritik gezeigt hat, dass sie ein Konzept ist, das auf den Menschen männlichen Geschlechts zentriert (androzentrisch) ist. So viel´ich weiß, hat sich vor diesem Text von Kardinal Ratzinger die christlich orientierte Philosophie niemals dieser Tendenz widersetzt oder wenn, dann ohne auf die Ontologie der geschlechtlichen Neutralität zurückzugehen. Tatsächlich kennt die christliche Personologie kein Denken der sexuellen Differenz. Kurz gesagt, wir befinden uns vor einem Text von größerer Sprengkraft und Neuheit, als er selbst es zu verstehen gibt. Etwas Ähnliches wie für den Punkt der geschlechtlichen Neutralität gilt auch für eine andere Tendenz, die das Schreiben zu Recht mit der ersten verbindet, und zwar für diejenige, sich von den eigenen biologischen Konditionierungen zu befreien. Auch diese Tendenz ist alt, sogar sehr alt, sie geht bis zu den Ursprüngen des Patriarchats zurück, das alles Mögliche erfunden hat, um unsere unüberwindbare Abhängigkeit von der mütterlichen Beziehung zu bagatellisieren.
Was also ist an Neuem geschehen, das die überraschende Stellungnahme der Kirche inspiriert hat, und zwar nicht seitens irgendeines theologischen Vorkämpfers, sondern des Kardinal-Präfekten der Glaubenskongregation selbst. Was die zweite Tendenz betrifft, so scheint es mir weniger schwierig, eine Antwort zu versuchen. Im Bereich der geleugneten Abhängigkeit von biologischen Konditionierungen besteht das Neue in dem doppelten Übergang in die Moderne und zu ihren postmodernen Entwicklungen, ein Übergang, den wir folgendermaßen zusammenfassen können: Das Denken hat sich vom Empfinden getrennt, um sich dem Verstand genauer anzupassen, der Quelle einer vorgeblichen Autonomie des Menschen, dessen Vernunft sich ihrerseits vom Techno-Logischen hat ersetzen lassen. (Auf diesem Weg ist Europa zum Wahnsinn des ersten Weltkriegs gelangt, der erste in einer Reihe von anderen Kriegen und anderen Wahnsinnstaten, für die unsere Nachkommen die Rechnung bezahlen müssen.) Nun gut, die katholische Kirche hat den Übergang in die Moderne über sich ergehen lassen, sich Sorgen darüber gemacht, hat davon gesprochen. Sie war nicht die einzige und auch nicht die erste, das muss gesagt werden. Ich denke an den großen Philosophen, den wir nicht in den Philosophiebüchern finden, Giacomo Leopardi, der mit prophetischem Nachdruck immer wieder auf unseren katastrophalen Verlust an Nähe zur Natur zurückkommt, ein Verlust, der mit den Fortschritten der Moderne einhergeht.
Schwieriger zu verstehen ist, was diesen Mann, Joseph […]