Projekt Beschreibung
Gute Tochter – Böse Tochter?
AEP Informationen. Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Nr. 2, 2017
“Christianes (57) Mutter (78) war, für die Familie völlig überraschend, rasant schnell dement geworden.” (S. 148)
Eine Krankheit wie Demenz kann die Beziehung zwischen Mutter und Tochter oft erschweren, belasten und verändern. Zunächst stellen sich viele Fragen. Wie tritt man am besten an die veränderte Mutter heran? Wie geht man mit der Krankheit um? Wie pflegt man eine demente Person? Das Buch geht das Thema der Mutter-Tochter-Beziehung zunächst historisch an. Frühe Wurzeln weiblicher Geschichte aus Mythen oder Märchentexten werden aufgezeigt und in ein Verhältnis zur gegenwärtigen Psychologie der weiblichen Persönlichkeitsentwicklung gesetzt. In erster Linie will das Buch Hilfestellung für Töchter demenzkranker Frauen sein, sich den Überforderungen bei der Betreuung bewusst zu stellen. Dazu wurden auch betroffene Personen befragt. Edith Marmon zieht hierbei Beispiele ihrer psychotherapeutischen Arbeit heran, schildert die Gefühle der betreuenden Töchter, deren Überforderung, ebenso wie Besonderheiten einer Mutter-Tochter-Beziehung. Dazu werden immer wieder Weisheiten aus Mythen und Märchen mit eingebracht.
Sofort prägnant im Gedächtnis bleibt das Titelbild des Buches – eine Plastik von Jutta Reis genannt “Demenz” mit dem Untertitel “Demenz ist die Zerstörung des menschlichen Geistes, nicht aber Zerstörung der ihm eigenen Würde!”
Die Mutter stellt die erste und wichtigste Bezugsperson eines Kindes dar, sie nährt und lehrt das Kind. Beispielsweise entsteht ohne die Laute der Mutter keine Sprache beim Kind. Daher trifft es die Töchter besonders, wenn sie bei einer Demenzerkrankung die Sprache ihrer Mutter nicht mehr eindeutig verstehen können.
Besonders und immer wieder streicht die Autorin die Wichtigkeit der Beziehung zwischen Mutter und Tochter für die weibliche Persönlichkeitsentwicklung und das weibliche Rollenverständnis der Tochter heraus. Die Mutter schafft die Grundvoraussetzungen für das Glück der Tochter im Erwachsenenalter, sie weist den Weg in die Welt. Edith Marmon zeigt die Mutter als Anfang allen Seins, spricht von der Sehnsucht nach ursprünglicher schützender Mütterlichkeit und von der Angst vor deren Verlust. Mit dem Beginn der Demenz ändert sich einiges, denn gerade anfangs ist es für die Töchter schwer und verunsichernd, wenn sie ihre Mütter verwirrt und apathisch erleben. Obwohl die Mutter immer für Halt, Sicherheit und Schutz stand, kann sie dieser Rolle nun nicht mehr gerecht werden. Es bedarf dann eines Prozesses der Umorientierung der Tochter. Mütter hingegen empfinden die Situation, gerade im Bezug auf ihre Tochter, oft als bedrückend, beschämend und ausweglos.
“Das Mutterbild muss sich allerdings in der Tochter wandeln dürfen, von der ‚allmächtigen‘ Mutter der Kindheit zur gebrechlichen, aber doch immer noch beschenkenden Mutter der Gegenwart, die jetzt auf die Hilfe ihrer Tochter angewiesen ist.” (S. 182)
Die Mutter verliert nach und nach ihre Persönlichkeit, eine Persönlichkeit die einen im besten Fall ein Leben lang gestärkt hat, die man so gekannt hat, die seit Kindertagen vertraut war. Besonders, wenn man seiner Mutter nahesteht, ist diese Erkenntnis oft schwer zu verkraften.
“Die Demenzerkrankung der Mütter bringt die Töchter in die Situation, ihre Mütter zu verlieren, obwohl sie noch anwesend sind.” (S. 178)
Die Perspektive der Autorin ist in der essentialistischen Differenztheorie verhaftet. Doch ist es ein für Betroffene sehr hilfreiches Buch, von der Autorin gewidmet an ihre demente Mutter, in einer Zeit, in der immer mehr Menschen mit dieser Krankheit konfrontiert werden.
(Sylvia Asslaber)