Projekt Beschreibung
Viele Spuren der alten Göttin
bzw-weiterdenken.de, 10.8.2022
Dieses Buch ist eine akribisch zusammen getragene Fundgrube, die mir offenbart hat: Es gibt sie also auch heute noch überall, die Spuren der Göttin bzw. die Erinnerungen an ein früheres, weiblich geprägtes religiöses Weltbild. Nicht nur im Mittelmeerraum und nicht nur in Südtirol. Dort hatten Forscherinnen am Ende des vorigen Jahrhunderts angefangen, nach Hinweisen auf vorpatriarchale Kulturen zu suchen. Sie waren fündig geworden und hatten damit bis zu einem gewissen Grad die Vorgeschichtsforschung und die Religionswissenschaften revolutioniert; vor allem aber hatten sie Frauen, die sich im Christentum mit seinem patriarchalen Gottesbild nicht mehr beheimatet fühlten, neue Identifikationsmöglichkeiten angeboten.
Für die damaligen Forscherinnen wird das Buch eine Bestätigung und auch eine Weiterführung ihrer Arbeit sein. Bettina Bremer hat sich deren Wissen zu eigen gemacht, weitergesucht – und viel gefunden. Was ich besonders spannend finde, ist, dass es nicht nur um die alten Hinweise, Zeichen und Überreste geht, sondern dass sie auch berichtet, wie offensichtlich an vielen Orten die überkommenen Bräuche wieder aufgenommen und die ‚Spuren der Göttin‘ erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurden. Ein Zeichen dafür, dass diese ersten feministischen Forschungen wirkmächtig waren und sind.
Bettina Bremer hat gesammelt und zusammengetragen, hat recherchiert und gelesen und an vielen Orten unglaublich viele Details gefunden. Weder bewertet oder spekuliert sie, noch hat sie neue Theorien entwickelt. Sie stellt einfach nur vor, was alles da ist. Und das ist wirklich viel. Da sie selbst in Hessen lebt, war dort der Schwerpunkt ihrer Spurensuche. Ich bin sicher, sie wäre in anderen Regionen ähnlich fündig geworden. Im Buch – und das finde ich eine geniale Idee – ist alles, was sich auf Hessen bezieht, einschließlich der Bildunterschriften und Fußnoten, in blauer Schrift hervorgehoben, sodass der regionale Bezug für heimatkundlich Interessierte sofort erkennbar wird.
Darüber hinaus zeigt sie auf, wie einzelne Bräuche – oft mit uralten Wurzeln – in ganz unterschiedlichen Ausformungen, in den verschiedenen Regionen weiterentwickelt wurden. So wie schon im Altertum Demeter und Kore bei den Eleusischen Mysterien Brot und Kuchen kredenzt wurden, wird manchmal heute noch im Rahmen der slawisch-deutschen Luzienverehrung Luzienbrot gebacken, in Schweden sogenannte ‚Lussekatter‘ und in Tirol etwa bekommt die Frau Perchta am Ende der Rauhnächte ein Schälchen Milch mit eingebrocktem Brot hingestellt.
Ich stelle mir vor, dass es gar nicht so einfach war, die Fülle der Göttinnenspuren, die die Autorin gefunden hat, zu ordnen. Doch sie hat ihr Material geschickt gegliedert. Zunächst geht es durch die Jahreszeiten, ich gebe hier nur ein paar Stichworte: wieder: Lichtmess und Fastnacht – Osterbrunnen, Heiliges Wasser und das mythische Ei – Osterhase, Jungfrau Maria und der Teufel – Maienkönigin und Grüner Mann – das Christkind und sein Esel. Schon die Überschriften sind so gewählt, dass sie neugierig machen. Was diese Begriffe mit der Göttin zu tun haben, verrate ich hier nicht. Dazu muss schon das Buch hergenommen werden. Dazwischen hat Bettina Bremer aber auch große Kapitel über die drei heiligen Frauen, über die Göttin als Sirene, die heilige Kümmernis sowie die Göttin und ihren heiligen Hirsch eingefügt. Über Hirschheiligtümer zum Beispiel hatte ich vorher noch nie etwas gehört.
Nur am Rande streift Bettina Bremer die männliche Überformung, Verdrehung oder auch die Verunglimpfung der alten Göttinnensymbole. In dem sehr ausführlichen und inhaltsreichen Kapitel über die vielfältige Präsenz der drei heiligen Frauen erwähnt sie, dass es ein Weg der christlichen Bildtradition war, die ursprünglich weibliche Dreiheit im wahrsten Sinne des Wortes zu verteufeln und der Teufel seit dem 3. Jahrhundert als Dreigesicht belegt ist.
Bettina Bremers großartige Sammlung ist kein Buch, um am Stück darin zu lesen. Aber es ist wunderbar, darin zu blättern, an den Abbildungen hängen zu bleiben, in einzelnen Unterkapiteln Neues zu erfahren, Details genauer nachzuvollziehen und sich der Präsenz der Göttin auch in unserem Kulturraum bewusst zu werden. Und natürlich eine hervorragende Möglichkeit, in Hessen auf Exkursion zu gehen und die alten Kultorte zu besuchen. Oder, noch besser, sich in der eigenen, nicht-hessischen, Heimat auf die Suche zu machen und auch dort ähnliche Spuren der alten Göttin zu entdecken.
(Juliane Brumberg)