Projekt Beschreibung

Die Sprache unsrer Ursprungs-Mutter MA

beziehungsweise-weiterdenken, 22.8.2020

Da liegt er vor mir, der Prachtband, ausladend, 664 Seiten dick, fast drei Kilo schwer und daher ungeeignet als Bettlektüre … So gewichtig wie das Buch ist auch sein Inhalt: Es ist ein Pionierwerk, denn es betrachtet die „Venus“-Kunst nicht nur im vorgeschichtlichen Europa und Nahen Osten, sondern global. Die Gesichter dieser Kunst werden innerhalb eines ausgeklügelten Symbolsystems erfasst und klassifiziert und erscheinen erstmals gemeinsam in einem einzigen Buch. Dies erklärt den stattlichen Umfang des Werkes.
Die Historikerin, Theologin und Symbolforscherin Annine van der Meer legt damit umfassende Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen Arbeit vor. Die titelgebende „Sprache unsrer Ursprungs-Mutter MA“ (in Fortführung von Marija Gimbutas‘ „Die Sprache der Göttin“ von 1995?) sind Zeichen, Symbole und Darstellungen in Plastiken und Skulpturen, die ohne Worte bis heute mit uns kommunizieren. Eine Sprache muss man verstehen können. Hier bekommen wir die passende Übersetzungshilfe.
Im Vorwort stellt van der Meer den Wandel der Perspektiven innerhalb der archäologischen Forschung dar, der auch der Grund für dieses Buch ist. Die Interpretationen von Fundstücken sind stets geprägt vom Weltbild der Betrachtenden. Bis heute ist die patriarchal geprägte Wissenschaft teilweise noch sehr in alten Denkmustern gefangen. Es ist bedrückend zu lesen, wie die ausdrucksstarken und berührenden Darstellungen weiblichen Seins in einer männerdominierten Öffentlichkeit zu „Pin-ups“ oder „Gespielinnen“ degradiert oder in den Zusammenhang von Fruchtbarkeit und Sexualität gestellt wurden. Das Heilige, Spirituelle, Machtvolle wird nicht wahrgenommen oder ignoriert und einfach nicht kommentiert. Hier wirken die vor Jahrhunderten durchgeführten „Korrekturen“ zum Beispiel im Alten Testament nach, die zu einer Herabwürdigung des Weiblichen führten und in der christlich geprägten Kultur bis heute weiterleben.
Das Buch gliedert sich in zwei große Teile. Der erste umfasst einen kunsthistorischen Ablauf von 40.000 vor unserer Zeit bis zum Jahr 0, teilweise auch bis in die Gegenwart. Besonders interessant finde ich nachzulesen, wie im Nahen Osten die Entwicklung und Veränderung der dort verehrten Göttin in die christliche Maria stattfand. Deren Bild sollte auch die hiesige spirituelle Weiblichkeit über Jahrhunderte prägen. Spannend finde ich auch, wie physikalische, chemische und biologische Verfahren heute zu neuen Erkenntnissen verhelfen.
Es gibt viele Querverweise, die mit einem gut durchdachten System leicht aufzufinden sind und dazu anregen, selbst zu vergleichen und zu verstehen. Nach jedem Kapitel erfolgt eine übersichtliche Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse. Am Ende des ersten Teils versorgt van der Meer uns sogar mit einer Checkliste, anhand derer wir selbst in Bildbänden oder in Museen eine Analyse der vorhandenen Skulpturen durchführen können – diese Idee gefällt mir sehr!
Der zweite große Teil zeigt die Symbole in einer thematischen Gliederung, die Deutungen werden quer durch die Zeiten und Kulturen nebeneinander gestellt. Die Zahlen, Orte, Elemente, Tiere, Pflanzen, Körperhaltungen, Bekleidungen haben sich nämlich auf der ganzen Welt wiederholt. Es wird auch erkennbar, wie sich die Darstellungen mit dem wachsenden Einfluss des Patriarchats veränderten.
Van der Meer stellt sich gegen die gewohnte Interpretation der Skulpturen, die den spirituellen und sakralen Aspekt verdrängt oder auch schlichtweg nicht weiß. Sie schildert die Herausforderung, in einer patriarchal geprägten Begriffsverwendung die Bedeutungen neu zu besetzen und sammelt unermüdlich Fakten und Beweise für ihre Sichtweise, die sich zu einem runden, eindeutigen Bild zusammenfügen. Dabei setzt sie eine interdisziplinäre und vergleichende Methode ein und findet mit den Lesenden zusammen eine gültige, brauchbare Definition für Venus-Kunst. Der Wert und die Bedeutung dieser weltweit verbreiteten Darstellungsform werden zurückgebracht und belegen den Beitrag der Frauen zur menschlichen Geschichte.
Van der Meers Vision für das 21. Jahrhundert besteht darin, den akademischen und den spirituellen Feminismus zusammenzuführen, sodass die uralte Weisheit und die Spiritualität der Frauen wieder in den Alltag integriert werden können. Gleichzeitig wird dadurch auch eine Rehabilitation der Kulturen der Urbevölkerungen auf der ganzen Welt möglich, in denen das Weibliche mehr geachtet wird. Das vergessene Weibliche wird ins Bild gerückt, und es entsteht eine „Balance und Verbindung zum Männlichen“ (S. 17), die in die Zukunft weist.
Ich konnte van der Meer nicht immer folgen in ihrer Beurteilung von Gestaltungen mit wenig Busen und Taille als „kindlich“ und „entsexualisiert“ und die Bewertung von runden, kurvigen Formen als weiblich-stolz. Die schlanke Figur wird oft als „jung“ bezeichnet, die füllige soll die reife oder auch alte Frau darstellen, ohne dass das für mich an Gesichtern oder anderen Indizien ablesbar ist. Ich denke, dass auch vor Jahrtausenden Frauen ganz unterschiedliche Körper hatten, und dass es so wie heute auch junge, voluminöse neben alten, schmalen gab. Ohne eine Expertin zu sein, stellt sich mir die Frage, ob die Figuren nicht manchmal auch ein Abbild vielfältiger und gleichwertiger Frauenformen sein können?
Das Werk ist sehr detailliert, aber gut und abwechslungsreich zu lesen. Van der Meer bedient sich eines lebhaften Schreibstils, der die Freude an ihren Erkenntnissen, aber auch den Ärger über Kolleg_innen spürbar werden lässt. Sie verficht ihr Ziel, falsche und unbegründete Interpretationen zu benennen und zu korrigieren, mit großem Engagement und erlaubt sich auch mal den einen oder anderen Sarkasmus. Alles wird durch unzählige Fotos (die meisten von der Autorin selbst aufgenommen), Skizzen und Karten illustriert. Weiß-Rot-Schwarz – die Farben der Großen Göttin – ziehen sich durch die ganze liebevolle Gestaltung der Ausgabe: vom Umschlag, auf dem die 8000 Jahre alte „Lady von Çatal Höyük“ prangt, bis zum Design der einzelnen Seiten und den zwei (!) Lesebändchen. Ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnisse fehlen natürlich auch nicht.
Nachdem dieses Buch zunächst auf Niederländisch und dann auch auf Englisch erschienen ist, wurde in der nun vorliegenden deutschen Fassung der Inhalt nochmals überarbeitet und ergänzt, sodass auch ganz aktuelle Forschungserfolge enthalten sind, die unvorstellbare 40.000 Jahre zurückreichen. Es ist ein Gemeinschaftserfolg: Neben der Autorin haben drei Übersetzerinnen und eine Anzahl Sponsorinnen dem kleinen Verlag geholfen, die deutsche Ausgabe Wirklichkeit werden zu lassen.
Mein Fazit: Dieses Buch ist ein Meilenstein der Kulturgeschichte und gehört nicht nur in den Privatgebrauch, sondern auch in alle wissenschaftlichen und kommunalen Bibliotheken!
(eowyn)