Projekt Beschreibung

Unterwegs mit Xanthippe. Ein kleines Büchlein über das postpatriarchale Durcheinander

bzw-weiterdenken.de, 29.7.2021

Ina Praetorius denkt, schreibt und spricht schon länger über das Ende des Patriarchats und das Durcheinander, das daraus folgt – auch mit vielen Beiträgen in diesem Forum. Voriges Jahr hat in sie ein kleines, kompaktes Buch darüber in der Reihe „philosophisch-politische Bändchen“ im Christel Göttert Verlag veröffentlicht und schreibt dazu im Vorwort: „Das Buch ist klein aus zwei Gründen: Zum einen gibt es viele Leute, die wenig Zeit zum Lesen haben […].“ Sie nennt Kinderbetreuung, anstrengende Jobs oder auch „Schweigen, Kochen, Schlafen und Politik“ als Gründe. „Zum anderen braucht es keine dicken Wälzer, um zu erklären, was das postpatriarchale Durcheinander ist und wie eine am besten so in ihm klarkommt, dass Neues entsteht.“ (S. 7-8)

„Postpatriarchal“ bedeutet, dass Ina Praetorius, mit anderen Frauen und Männern zusammen, vom Ende des Patriarchats ausgeht und dessen Denkmuster nicht mehr verwendet. (S. 12, S. 16) Das „Durcheinander“ heißt für sie dreierlei: dass dadurch eine kreative Unordnung entsteht, wo Wörter und Wirklichkeit neu geordnet werden müssen, dass das neue Denken „durch einander“ geschieht, also in Bezogenheit zu anderen, und dass es als „durch ein ANDER“ auch offen ist für ein ANDERES, UNERREICHBARES, UNVERFÜGBARES, UNBERECHENBARES, DAZWISCHEN, was einige Menschen „Gott“ nennen. (S. 8-9. S. 16-17)

Mit Xanthippe die Welt als Eins erkennen – Geburtlichkeit und gutes Leben mit Scheiße

Ausgehend von Xanthippe, die nicht klaglos hinzunehmen bereit ist, dass Sokrates seinen Tod als Übergang zum eigentlichen Leben begrüßt, beschreibt Praetorius, was es heißt, die Zweiteilung der Welt zu überwinden: „Xanthippe ausreden zu lassen, bedeutet, die Welt als Eins zu erkennen.“ (S. 43) Der Sterblichkeit und der Ausrichtung auf ein jenseitiges Leben stellt sie die Geburtlichkeit gegenüber. Was das bedeutet, beschreibt sie, von Hannah Arendt ausgehend, so:

Menschen sind nicht, wie Platon meinte, unabhängiger Geist, und Mütter sperren nicht Seelen in lästige Körper. Menschen kommen vielmehr durch einander als abhängige Winzlinge in die Welt. Die Welt ist schön und schrecklich zugleich und mit hoher Wahrscheinlichkeit der einzige Raum, den wir bewohnen können. (S. 57)

In diesem Geborensein verortet Praetorius die unantastbare Würde des Menschen, also im tatsächlichen Dasein, dem ehemaligen »Diesseits« […]: Als geburtliche Wesen sind wir alle vom ersten bis zum letzten Tag unseres Lebens abhängig von Luft, Wasser, Erde und von allem, was sie hervorbringen, von einander und von gelingenden Gemeinwesen. Gleichzeitig sind wir frei zu nähren, was uns immer schon nährt. Wir sind und bleiben Neulinge, bedürftige, atmende Körper, fähig zur Neugier und zum Neuen, zum Spielen, zum Ausprobieren, zum Vergeben und zum täglichen Anfang. (S. 59)

Aus dieser Wertschätzung der materiellen Bedingungen des Menschseins leitet sie die Notwendigkeit ab, über ein „gutes Leben mit Scheiße“ nachzudenken, also die Scheiße, die Dreckarbeit, das Lästige, den Leib und seine Bedürfnisse in den Blick zu nehmen: „All dies ist kein dummes Zeug, das wir möglichst hinter uns lassen sollten zugunsten eines vermeintlich höheren Lebens, sondern eingeschlossen in die allgemeine und geburtliche Würde aller in der einen Welt. Die Vertröstungen auf ein besseres Später haben ein Ende. Xanthippe bekommt Recht.“ (S. 60)

Bei aller Scheiße geschieht nämlich doch gutes Leben: Es gibt den Frühling und das Meer, Musik und Kinderspiel, gutes Kochen und Essen, Tanz und Stille und den Sternenhimmel, Gespräche mit Freundinnen und Freunden, ein Gefühl in der Welt sicher und zuhause zu sein, als geborenes Mensch, das isst und trinkt und kackt und stinkt und liebt und manchmal krank und dann wieder gesund ist und eines Tages stirbt. Es ist gut, dafür zu sorgen, dass Menschen friedlich, gerecht und mit Lust zusammen leben, solange sie da sind. (S. 64)

Wirtschaft als Befriedigung echter Bedürfnisse, hier und jetzt

Die Verheißung eines idealen Jenseits findet sie außer bei Aristoteles und Platon sowohl in „mächtige[n] Glaubenssystemen, die ihren Einfluss aus der Konstruktion unsichtbarer Welten zogen“ ‒ als auch in den Erwartungen an „die Heilslehre der Moderne […]: »die Wirtschaft«“, den Konsum und die Work-Life-Balance, die das eigentliche Leben auf später vertagen. Stattdessen plädiert Praetorius für eine „Ökonomie der Geburtlichkeit“. Diese liegt in der Fürsorgeabhängigkeit aller begründet und leugnet sie nicht, sondern strebt die „Reorganisation der Ökonomie um ihr Kerngeschäft“ an: „die Befriedigung tatsächlicher menschlicher Bedürfnisse weltweit.“ Ina Praetorius spinnt weiter, was Xanthippe hätte sagen können und entwirft eine diesseitige Vorstellung, wie gutes Leben hier und jetzt gelingen kann: „Ja zum wirklichen Dasein zu sagen: mit Mist, Entzücken, mit tatsächlichen Wünschen und all dem Normalen dazwischen.“ (S. 96)

Religiöse Praxis – Jasagen, individuell und gemeinsam

Damit wandelt sich auch die Vorstellung von dem, was Ahninnen und Vorfahren »Gott« nannten. Ina Praetorius übernimmt von diesen die Kennzeichnung durch Großbuchstaben, spricht aber vom anderen, vom unverfügbaren, vom Dazwischen. (S. 8-9) Sie beschreibt zwei postpatriarchale religiöse Praxen. Zum einen, als bereits geübte individuelle Praxis, das Dasitzen und Sortieren als Einüben ins Jasagen, zum anderen, als Vorschlag, Entwurf das gemeinsame Hinsetzen mit anderen, „wie früher im Gottesdienst“, das Erzählen, Singen, Tanzen, Schweigen – und das „Gespräch […] darüber, was wer als Nächstes mit wem tun sollte, damit das gute Leben mit Scheiße auch an Werktagen gelingt“.  (S. 102-103)

Durch einander – eine neue Erzählung

Der Kritik einer solchen Vorstellung als „Sozialromantik“ hält Ina Praetorius das Beispiel der Wellbeing Economy Governments partnership entgegen, eines Bündnis von Regierungen, die sich am Wohlergehen aller Geborenen orientieren wollen. Zu dessen erstem Arbeitstreffen waren die Regierungschefinnen von Schottland, Island und Neuseeland im Mai 2019 in Edinburgh zusammengekommen und hatten sich auf eine vernachlässigte Tradition im Werk von Adam Smith berufen, „die das Wirtschaften und das Regieren ans Glück der Menschen bindet“. (S. 107-108)

Ina Praetorius endet mit einer Fabel, die sie aus verschiedenen biblischen Erzählsträngen webt: Elemente aus der Geschichte von David und Goliath, wie eine Konfrontation dadurch friedlich endet, dass ein:e Kleine:r eine:n Große:n überrumpelt – und zum Lachen bringt – verknüpft sie mit Elementen aus der Speisung der Fünftausend – wie viele gemeinsam essen und trinken und satt werden. (S. 111-115)

So löst sie ihren Anspruch ein und zeigt ganz praktisch, wie im postpatriarchalen Durcheinander Neues entstehen kann: durch die Arbeit am Symbolischen und eine neue narrative Praxis. Das kleine Buch enthält viel Stoff zum Nachdenken und Weiterdenken. Nicht nur dass Literaturangaben die weitere Vertiefung erlauben. Das Buch geht vor allem weit über Patriarchatskritik hinaus: Es überwindet sie, indem es eine neue philosophische und politische Anthropologie entwirft, aus der heraus auch eine neue Ethik, Wirtschaftsordnung und Religionsausübung (wenn eine die Praxen, die Praetorius beschriebt so nennen darf) begründet werden. – Damit ermutigt es auch zum Handeln, das bereits in einem neuen Denken und Sprechen bestehen kann, und in der Folge auch in einem neuen Verhalten – zugunsten des guten Lebens aller Geborenen.

(Anne Lehnert)