Projekt Beschreibung
Ungewöhnliche Bilder mit lesender Maria
Darmstädter Echo vom 10.12.2011
Kirche – Theologin spricht bei der evangelischen Versöhnungsgemeinde GROSS-GERAU.
Denken wir an Bilder zur Verkündigung von Jesu Geburt durch den Engel oder an die Weihnachtsgeschichte – welche Szenen entstehen vor unserem Auge? Der Engel gehört dazu, Krippe, Hirten, Sterne und natürlich Maria. Aber wer denkt dabei an eine lesende Maria? Und doch gibt es in allen Jahrhunderten Bilder, auf denen Maria mit einem Buch dargestellt ist.
Diese Bilder haben die Theologin und Philosophin Andrea Günter zu weiterer Forschung angeregt. Daraus ist ein Buch entstanden, das sie am Donnerstagabend in der evangelischen Kirchengemeinde Groß-Gerau Nord vorstellte. Wenn erst einmal die Aufmerksamkeit auf die Bücher in Marias Hand gelenkt ist, dann rückt auch bei bekannten Bildern wie “Verkündigung an Maria”, von Leonardo da Vinci zwischen 1472 und 1475 gemalt, dieses Buch in das Blickfeld des Betrachters. In einem zweiten Bildbeispiel (15. Jahrhundert, Buchmalerei aus Nordfrankreich) zeigte die Referentin Maria im Stall mit einem Buch und Josef, der das Kind wiegt. Diese Umkehrung der Geschlechterrollen bewegte die Theologin. Sie gewann zehn weitere feministische Theologinnen und frauenbewegte Denkerinnen, ebenfalls Beiträge für ihr eigenes Buch zu verfassen. Im Mittelpunkt steht immer das Bild Marias.
Andrea Günter arbeitete heraus, wie das Bild der Frau Maria in den Jahrhunderten einen Wandel erfuhr. Besonders deutlich werde das an zwei Möglichkeiten, Marias Verkündigung darzustellen. Einmal blickt Maria den Engel selbstbewusst an, einmal senkt sie demütig den Kopf.
Auch für den Vorgang des Lesens gebe es zwei Interpretationen – es kann ein Nach-Denken vorhandener Ideen sein oder ein Öffnen für selbstständiges Denken. Zu diesem Gedanken, erklärte die Theologin, gehöre auch die Bedeutung der Geburt, die sie als einen neuen Anfang in eine schon bestehende Welt verstehe. Das sei nirgends schöner ausgedrückt als bei Hannah Arendt (1906-1975, jüdische Publizistin und Gelehrte), die in der Aussage “Euch ist ein Kind geboren” das Wunder der Geburt und des Neuanfangs sah.
Andrea Günter erklärte, wie Lesen und Gebären in gleicher spiritueller Interpretation der Weihnachtsgeschichte gesehen werden können. Lesen bedeute im lateinischen Wortstamm “legere” auch sammeln, verbinden und ernten – in dem Wort Weinlese ist diese Bedeutung noch erhalten. Manchmal sei Maria mit einer Handarbeit dargestellt, die diese Bedeutung deutlicher aufnehme. Genauso sei die Geburt Jesu der Beginn eines menschlichen Beziehungsgewebes.
Im Laufe der Religionsgeschichte sei aber die lesende, selbstständig denkende Maria immer mehr in den Hintergrund getreten, erfuhren die Zuhörer …
(üle)