Projekt Beschreibung
Käthe, meine Mutter
Familiendynamik, 2/2003
Frauen gestalten Kirche und Gesellschaft, März/April 2004″… Marianne Krüll geht es darum aufzuzeigen, “wie die Schicksale der Menschen in den Vorgenerationen mit denen der Nachfahren verbunden waren”. Die Kontinuität zur Vergangenheit dient der Aufgabe, prägende Einflüsse aufzuspüren, die unerkannt in der Gegenwart wirksam bleiben und hierdurch Zukunft blockieren. In ihren Ausführungen wird ein derartiges Wiederholungsmuster z.B. durch sich wiederholende Motive von Scheidungen in ihrer Familie durch drei Generationen hindurch manifest.
Marianne Krüll lädt die Leserin und den Leser zu einer langen Wanderung ein – “Ich tauche für mehrere Wochen in Geschichten ein oder besser gesagt unter, die mir zwar aus meiner kindlichen Erinnerung bekannt waren, die ich aber aus einer Erwachsenensicht noch einmal überraschend und neu entdeckte” -, um uns die “Lebens- und Familiengeschichte einer unscheinbaren Frau, nämlich von Käthe, meiner Mutter” aus ihrer subjektiven Sicht aufzuzeichnen. Feministisches Prinzip ist bei ihr erkenntnisleitend. Ihre Wanderung führt durch Räume, Orte, Landschaften und Zeiten. Die Familientafeln und alten Landkarten im Anhang, die ausgesuchten Fotos wie auch das konkrete Aufsuchen der Lebensorte ihrer Familien laden uns zur Teilnahme ein. Es verdeutlichen sich die Schicksale der Menschen, die in gravierende soziohistorische Umwälzungen eingebettet sind und in den Vorgenerationen mit den Nachfahren verbunden und verstrickt blieben “als Teil eines dynamischen generationenüberspannenden Familiennetzes”. Marianne Krüll ist sich der Gratwanderung bewusst, wenn sie den schützenden persönlichen Raum verlässt und uns Fremden die Tür zu ihrer Familie – zentriert um Mutter und Tochter – weit öffnet.
Doch diese intime Einladung bewirkt Zentrales: Die Autorin schneidet der Leserin und dem Leser den Weg ab, lediglich voyeuristisch oder beurteilend zu bleiben. Die Leserin und der Leser geraten unbemerkt in einen Sog, mit ganzer Seele im Netzwerk der eigenen Familiengeschichte eingefangen zu sein. Und hiermit mutet Marianne Krüll uns einen beschwerlichen Auseinandersetzungsprozess zu. Vordergrund (Buch) und Hintergrund (eigene Biographie) verschwimmen ineinander. Gefühle, Anspannungen, Missmut, Wut, Trauer – bis hin in aufrüttelnde nächtliche Traumszenen gilt es zu entwirren. Anteile der eigenen Lebensgeschichte sind dieser zuzuordnen, um wieder die Aufmerksamkeit auf Marianne Krüll und Käthe, ihre Mutter, zu richten. Doch dieser abstrahierende Prozess kann und soll nicht gelingen. Marianne Krülls Stilmittel, Zwiesprache mit den Personen ihrer Biographie, insbesondere mit ihrer Mutter und “der Mutter in mir”, zu halten, bewirkt vielmehr, dass auch eine anhaltende Zwiesprache zwischen der Autorin und der Leserin oder dem Leser wie auch mit den Personen der jeweils eigenen Biographie entsteht. Dieser Prozess ist einer der stärksten Eindrücke, die dieses Buch hinterlässt. Die Versuchung liegt immer wieder nahe, Schmerzliches, Verletzendes, Empörendes, Ideologisches, Anmaßendes, Missionarisches “nur” bei Marianne Krüll zu sehen oder auf sie abzuwälzen. Hierzu eignen sich vor allem die vielfältigen, teils kaum erträglichen Szenen in dem Kapitel um das Zerwürfnis von Marianne Krüll und ihrer Mutter, in dem sich beide Frauen in ihrer Unerbittlichkeit nicht nachstehen und sich nichts schenken. Der relativ frühe Tod der Mutter lässt keinen äußeren Weg der Annäherung zu. Eine weitere Versuchung, dem Eigenen zu entgehen, liegt darin, Marianne Krülls Biographie quasi wie eine “Fallvorstellung” in einem Seminar mit psychoanalytischen, familientherapeutischen oder soziologischen Hypothesen zu interpretieren oder aber sich als “jüngere Schwester” dieser älteren Schwester durch Entwertungen zu erwehren. Ein dergestaltes Ausweichen als Widerstand gegen die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie zu entlarven ist Zumutung und Herausforderung dieses ergreifenden Buches. Hier sei Kritisches abgemerkt: Als Leserin oder als Leser fragt man sich: Warum dann aber die pädagogisierende Anleitung im Schlusskapitel “Ausblick”? Zerstören nicht gerade diese die Zwiesprache und die dialogischen Prozesse, in denen es Marianne Krüll doch gerade gelungen ist, uns auf ihre Wanderung mitzunehmen, um parallel vielfältige eigene kreative Wege der uns gemäßen Spurensuche zu entdecken? Möchte sie uns vor ihrem Weg bewahren – womöglich einerseits zur Entlastung untergründig anhaltender Schuldgefühle oder durch ihre Erfahrung, dass therapeutische Hilfe tatsächlich zwar lindern wird, aber Heilung therapeutischen Allmachtsphantasien entspringt? …
Das faszinierend gestaltete bibliographische Buch von Marianne Krüll, Käthe, meine Mutter, ist ein an- und aufregendes Dokument einer lebenslang anhaltenden Trauerarbeit. Es rührt an, macht neugierig, lässt auch abschrecken, aber dann erkennen, dass eine solche Trauerarbeit mit all ihren weichen und harten Facetten den Weg bereitet, um Frieden zu schließen. Marianne Krülls Prozess um ihre Mutter Käthe gibt Auskunft darüber, dass heftigste Auseinandersetzungen zwischen uns und unseren primären Bezugspersonen diese nicht “töten”, sondern zur Überwindung kindlicher Abhängigkeiten und entsprechender Allmachtsphantasien ernüchternd sind.
Marianne Krüll hat uns höchst Persönliches anvertraut und lädt uns dazu ein, sich den eigenen Familievermächtnissen anzunähern und sich von deren Sog zu befreien. Und diese Arbeit – die auch vielfach Trauerarbeit ist – kann uns niemand abnehmen.”
(Dr. Almuth Massing, Göttingen)