Projekt Beschreibung

Venusfiguren

Hebammeninfo, 04/2020

Nach langer Vorbereitungszeit ist ein großformatiges Buch erschienen, das sich mit Venusfiguren befasst, diesen meist voluminösen meist nackten Frauenfiguren aus der Vorzeit, die immer wieder neue Rätsel aufgeben: „Die Sprache unserer Ursprungs-Mutter MA“. Beeindruckend sind erstmal allein die Zahlen: Es geht um 40000 Jahre Venus-Kunst ausgebreitet auf fast 700 Seiten mit 1300 farbigen Abbildungen. Die holländische Historikerin, Theologin und Symbolforscherin Dr. Annine van der Meer hat auf Reisen weltweit in der Ur- und Frühgeschichte nach der Spur der universellen Mutter in Bildern und Symbolen gesucht und Werke aus alt- und jungsteinzeitlichen Kulturen in diesem beeindruckenden Nachschlagewerk zusammengetragen. Entstanden ist eine sehr umfassende Bildersammlung zur Großen Göttin. Das Werk soll einen Beitrag zur Kunst- sowie auch Menschheitsgeschichte beisteuern.

Auf das englische Worte für Geschichte hinweisend erklärt van der Meer, dass sie die männlich dominierte His-Story als Her-Story aus einer matriarchalen Perspektive neu schreiben möchte. Sie macht deutlich, dass im Altertum fast nur Frauen dargestellt wurden. Anhand ihrer vielen globalen Funde hat sie alle möglichen weiblichen Aspekte der Symbolsprache studiert und auf dieser Grundlage möchte sie einen spirituellen Feminismus stärken. Venus-Kunst bezieht sich ihrer Meinung vor allem auf die zentralen Themen Geburt, Tod und Wiedergeburt.

Manchmal ist das Buch etwas langatmig und berichtet zu detailliert von Kontroversen mit anderen Wissenschaftlern. Spannend sind dagegen die vielen Unterkapitel zu kleinen Besonderheiten der Figuren. So führt ein Kapitel zu den Lieblingsorten der Ur-Mutter: Meer, See, Fluss und Quelle. Aber auch grüne Inseln sind vertreten sowie duftende Gärten, Berge und Höhlen. In einem weiteren Kapitel werden Lieblingsbäume und –pflanzen der Ur-Mutter beschrieben, in einem anderen stehen deren Körperteile im Mittelpunkt: Bauch, Mutterleib, Vulva, Venushaar, Eileiter, das ungeborene Kind, Plazenta, Nabelschnur, Bauchnabel, Blut, Brüste, Füße, die Hand, Ohr und Auge. Van der Meer befasst sich auch mit der Kleidung der Ur-Mutter, wobei besonders auf den Fruchtbarkeitsgürtel eingegangen wird. Kapitel 7 bezieht sich auf Darstellungen des Gebärens, wobei ganz kurz auf Darstellungen von Hebammen eingegangen wird. In Kapitel 8, dem letzten Kapitel, wird die christliche Maria neu betrachtet, die laut der Autorin einiges von der Symbolsprache der Venus übernommen hat.

Anlässlich der symbolhaften Darstellungen erläutert van der Meer Zusammenhänge mit geometrischen Zeichen und Buchstaben: Ein geschlossenes, nach unten zeigendes V symbolisiere die Vulva sowie ihre generativen und regenerativen Aspekte. Das M-Zeichen stehe für die Gebärstellung: Die aufgestellten abgewinkelten Beine würden wie ein M aussehen.

Die Autorin zählt verschiedene Deutungsansätze der Venus-Figuren mit ihren auffallend großen Brüsten und dem dicken Bauch auf: Manche AutorInnen meinen, die Fettansammlungen befänden sich an der richtigen Stelle, es wären einfach Frauen dargestellt, die korpulent waren, andere meinten es handele sich um Frauen mit Jodmangel, daher die verkürzten Gliedmaßen. Sie zitiert einen Gynäkologen, der meinte, es handle sich um uraltes Lehrmaterial für Schwangere. Andere meinten, es seien Selbstporträts von Frauen. In letzter Zeit lasse allerdings die Fixierung der Deutungen auf Schwangerschaft nach, so van der Meer. Dezidiert geht sie auf die berühmte Venus von Willendorf ein, die 1908 in Österreich gefunden wurde, sich heute im Naturhistorischen Museum Wien befindet und die nach neuesten Schätzungen wohl etwa 29500 Jahre alt ist. Ähnlich wie andere Venusstatuen hat diese elf Zentimeter große Figur aus Kalkstein einen runden Kopf mit starken horizontal verlaufenden Rillen, die laut der Autorin auf eine Kappe hindeuten, ein Gesicht ist kaum auszumachen. Sie zitiert eine andere Autorin, die meint, dass diese Kappe wie gewebt wirke und daher möglicherweise ein Lehrmodell für Weberinnen gewesen sei. Vielleicht, so van der Meer, zeigt sich in dieser Art Flecht- oder Webwerk die Verbindung mit den Ahninnen, die sie auch Clanmutter oder Nana nennt. Möglicherweise sind es einfach nur stilisierte Haare? Alles sind nur Vermutungen, die nicht eindeutig belegt werden können.

Van der Meer resümiert, es gebe verschiedene Funktionen, die die Venus-Statuetten erfüllen. Für die Autorin selbst sind es hauptsächlich Ahninnen und Clan-Mütter, die als Schutzgeister fungieren. Sie nennt sie Urmutter MA mit den kosmischen Schöpfungskräften einer Göttin. Manchmal sind ihre Interpretationen nicht ganz nachvollziehbar. So erklärt sie kurzerhand, dass die Schnüre, die manchmal an den Figuren zu finden sein, Geburtsschnüre sein: Schnüre, die horizontal in Hütten aufgespannt wurden, damit sich die Gebärende daran festhalten könne. Und sie seien bei den Statuen mit sakraler Bedeutung aufgeladen. In manchen Einkerbungen meint van der Meer wiederum einen Gürtel zu erkennen, der den Frauen früher als Fruchtbarkeitsgürtel zu einer Schwangerschaft verhelfen sollte. Es könne ihrer Meinung nach aber auch ein Schwangerschaftsgürtel sein, der bei schwierigen Entbindungen helfen sollte. Ein Rock mit Schnüren dagegen deute an, dass die Dargestellte noch nicht an einen Mann vergeben sei und daher Aufmerksamkeit auf ihren unteren Teil des Körpers lenke. Aber eigentlich zeige die meist vorhandene Nacktheit der Venusfiguren in der damaligen Eiszeit, wo dringend Kleidung nötig war, auf eine sakrale Funktion hin, ist sich van der Meer sicher. Sie hat sich anscheinend alle bisher gefundenen Venusfiguren angeschaut und präsentiert sie jeweils mit Foto. Eine Gliederung gibt eine gute Übersicht: Es gibt eher naturalistische sowie abstrakte Venuskunst, darunter der violinförmige Typ ohne Kopf, der brettartige Typ und die Flaschenform, der Typ mit flossenartigen Armen sowie die mit stark stilisierten und betonten Augen. Ein spezieller Typ von sitzenden Venusfiguren symbolisiere eine Hebamme. Venus-Kunst ist für van der Meer Urmutter-Kunst. Unabhängig von Interpretationen ist es spannend die Menge an Venusfigurinnen chronologisch anschauen zu können.

Die Autorin gliedert die Venusfiguren in ein Symbolsystem: In der Eiszeit habe es sieben sakrale Körperhaltung gegeben, darunter die Gebärhaltung der Clanmutter. Dazu seien nach der Eiszeit noch sechs weitere Haltungen hinzugekommen, etwa Mutter mit dem Kind und eine Gebetsgeste. Van der Meer: “Bemerkenswert ist, dass Mütter mit einem Baby an ihrer Brust erst ab 9000 v. u.Z. dargestellt werden – und nicht vorher! In der Eiszeit zuvor wurden mit schöner Regelmäßigkeit einzelne Brüste abgebildet. Sie stehen für mütterliche Liebe und Fürsorge.” Diese Venusfiguren, die ihr Kind stillen, werden Kourotrophos genannt (griech. für eine Mutter, die ein Kind nährt). Laut der archäologischen Sammlung in Graz könnten es sich um Votivgaben für eine weibliche Gottheit handelte, die für Fruchtbarkeit, glückliche Fortpflanzung, für das Wachstum und den Schutz der Kinder zuständig war.
Immer wieder wird diskutiert, ob die vielen brustartigen Rundungen an den römischen Skulpturen der Artemis Ephesos (1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) menschliche Brüste oder eiförmige Ledersäckchen, brustförmige Honigwaben oder Hodensäckchen von Opferstieren darstellen sollen. Mitunter werden sie als Kürbisse interpretiert, die in Asien Fruchtbarkeit symbolisierten. Für die Autorin stammt die plausibelste Erklärung von dem Archäologen, der eine der Figuren 1956 entdeckt hatte: Es seien eiförmige Früchte, die den Fruchtbarkeitsaspekt verdeutlichen sollten. Van der Meer schließt damit, dass der Begriff Artemis Polymastros (die mit den vielen Brüsten) jedenfalls falsch sei.

Eines der letzten Bilder zeigt das Gemälde „Madonna mit Kind“ (1450) von Jean Fouquet, der als einer der bedeutendsten Künstler an der Schwelle von der Spätgotik zur Frührenaissance gilt. Van der Meer sei froh, schreibt sie, die alte heilige Körperhaltung der stillenden Göttin (Dea lactans) in diesem wunderschönen Gemälde wiederentdeckt zu haben.

(Birgit Heimbach)