Projekt Beschreibung

Eine unfassbare Sehnsucht

leselustich.com, 19.12.21

Triggerwarnung:

Eine unfassbare Sehnsucht schildert ein Leben, das von sexualisierter, psychischer und körperlicher Gewalt geprägt ist. Wer sich damit ebenfalls auseinandersetzt: Bitte achte auf dich!

Schon als Kleinkind ist Doris Opfer von Gewalt. Der Großvater vergewaltigt sie regelmäßig. Hinter den Büschen am Spielplatz, wenn er sie von der Schule abholt. Daheim in seinem Schlafzimmer, in dem auch Doris aus Platzmangel schlafen muss.

Wendet sie sich an die Mutter, hagelt es zusätzlich Schläge. Weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf. Für die blauen Flecken und die Schmerzen interessiert sich niemand. Dafür sorgt die Mutter, indem sie Doris schon früh beibringt, dass ihr sowieso niemand glauben wird. Dass sich niemand für sie interessiert. Dass sie lügt und keiner was mit ihr zu tun haben möchte. Eine schwere Hypothek für ein Kind.

So früh es geht, bricht Doris aus dem familiären Umfeld aus. Rebelliert. Fliegt mit Schwung aus der Bahn. Sucht Trost im Alkohol. Kommt mit einer Freundin etwas zur Ruhe. Bei ihr erfährt sie auch, wie liebevoll Eltern mit ihren Kindern umgehen können. Dass das Leben, das sie daheim führen musste, nicht normal ist.

Anfang 20 ist alles zu viel

Der völlig Zusammenbruch kommt Anfang 20. Panikattacken und Angststörungen sind so heftig, dass sie die Wohnung praktisch nicht mehr verlassen kann. Eine Odyssee durch Therapien, Kliniken, Selbsthilfegruppen beginnt. Eine Odyssee, die Doris ohne die Menschen, die ihr zum Glück immer wieder zur Seite standen, nicht überlebt hätte.

Mit 38 kann sie zum ersten Mal ins Berufsleben starten. Immer wieder reißen Krisen sie heraus. Neue Therapien, neue Kliniken. Heute, mit 58, lebt Doris in Bremen, Endlich hat sie die Kraft, von der Arbeit auch mal heim zu laufen. Alleine. Ein unglaubliches Gefühl von Freiheit.

Lest es und sprecht darüber!

Eine unfassbare Sehnsucht hat mich ab Seite 1 gepackt. Und es hat mich zwischendurch immer wieder unsagbar wütend gemacht. Es ist so krank, was Kindern – und natürlich auch Erwachsenen angetan wird. Wie perfekt die Co-Abhängigkeit bei Gewalt im familiären Umfeld funktioniert. Während die einen Familienmitglieder sexualisierte Gewalt ausüben, untergraben die anderen – häufig die Mütter – systematisch die Glaubwürdigkeit der Opfer. Das Ergebnis: Kinder, die sich isolieren. Die keinen Mut haben, sich in der Schule oder bei Freund:innen zu offenbaren. Weil sie es ja im Grunde verdient haben, schlecht behandelt zu werden. Das wird ihnen jedenfalls bei jeder Gelegenheit vermittelt. Und genau deshalb sind Bücher wie Eine unfassbare Sehnsucht auch so wichtig. So grausam das Erleben für die oder den Einzelnen ist, so stereotyp sind die Mechanismen auf Täterseite. “Du lügst, wenn du den Mund aufmachst.” “Was du erzählst, ist nicht wahr. Das weiß doch jeder.” “Dass du dich nicht schämst, sowas über unsere Familie zu behaupten.” Diese und ähnliche Sätze habe ich immer wieder in meinem Freundeskreis gehört. Der Zusammenbruch kam dort zwar fast immer eher so gegen Ende 20, aber er war nicht weniger schlimm.

Wer sich wehrt, stolpert über die gleichen Hürden, die auch Doris beschreibt: Relativierungen, Anzweifeln der Glaubwürdigkeit, Co-Abhängigen wird mehr geglaubt, als den Opfern, Befunden von Ärzt:innen und Therapeut:innen wird nicht vertraut. Ein kleines Mädchen hätte den Großvater anzeigen müssen, dann wäre sie als Erwachsene glaubwürdiger. Einfach unfassbar. Und genau wie vor fast 20 Jahren auch heute noch unverändert. Einer Bekannten wurde erst kürzlich im Gerichtsprozess attestiert, sie habe nur deshalb auf sexualisierte Gewalt so heftig reagiert, weil das eine frühere Vergewaltigung getriggert habe. Dabei sei alles nicht so schlimm gewesen. Zumal im Karneval…

Wir brauchen mehr Menschen wie Sie

Liebe Doris Wind,

vielen Dank für dieses Buch.

Wir brauchen noch viel mehr davon. Und mehr Menschen, die die Inhalte verbreiten.

Generell über Gewalterfahrungen, aber vor allem auch über Gewalt im familiären Umfeld. Über die perfekten Choreografien, die die Opfer unglaubwürdig machen sollen und ihnen damit ihre Zukunft verbauen.

Ihnen wünsche ich noch viel mehr dieser “Ups, wieso kann ich das jetzt plötzlich machen, ohne in eine Panikattacke zu geraten!”-Momente. So oft, bis Ihnen nicht mehr auffällt, dass sie plötzlich ein “neues Kunststückchen” beherrschen, das für Hunderttausende andere alltäglich ist.

Eine unfassbare Sehnsucht muss gelesen und weitererzählt werden.

(Ulrike)