Projekt Beschreibung

Mit der Erde verbunden

Mathilde, Mai 2023

Dr. Heide Göttner-Abendroth ist die Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung und hat eine völlig andere Gesellschaftsform wieder zugänglich gemacht, welche nach ihren Erkenntnissen die älteste Form des Zusammenlebens ist. Diese wiederzuentdecken bedeutet einen wesentlichen Teil unserer verschütteten Kulturgeschichte zurückzugewinnen …
In ihrem neuen Buch hat sie die verdrängte, verdeckte und vergessene matriarchale Spiritualität mit ihren Mythologien, ihrer Symbolik und ihren Zeremonien kenntnisreich dargestellt. Sie schreibt der Wiederentdeckung von Kulturen, deren Spiritualität sich auf die Welt als weiblichgöttliche bezieht, eine politische Dimension zu. Sie sieht dies als bedeutenden Schritt hin zur Überwindung patriarchaler Denksysteme, die Frauen und Natur herabgewürdigt und abgewertet haben.
Göttner-Abendroth macht deutlich, dass matriarchale Spiritualität sich grundlegend von den Religionssystemen patriarchaler Gesellschaften unterscheidet. Sie bezieht sich nicht auf einen transzendenten, abstrakten Gott, sondern auf das Diesseits – die gesamte irdisch-kosmische Natur mit ihren vielfältigen Erscheinungen. Die Erde wird als Mutter Erde und als universale Göttin betrachtet, die nicht fern und unsichtbar, sondern die mit allen Sinnen wahrnehmbar ist. Der größte Stern und der kleinste Grashalm gelten als göttlich. Mit der Zweiteilung der Welt (Jenseits / Göttlich und Diesseits / Natur) werden dem Bereich des Göttlichen Macht und Vernunft zugeordnet, während die Natur dienenden Charakter hat. Diese Zweiteilung (Dichotomie) ermöglicht überhaupt erst die zunehmende Instrumentalisierung und Beherrschung der Natur, die das Sinnbild „Mutter Erde“ verdrängt und so auch das gemeinsame Band zwischen Mensch und Natur zerstört. Die Natur und die Frau als der „natürlichen Welt“ zugehörig wurden zur ausbeutbaren Ressource.
In Europa wurden mit der Hinrichtung von Tausenden von Frauen als sogenannte Hexen auf den Scheiterhaufen bis zur frühen Neuzeit die letzten Reste matriarchaler Kultur vernichtet. Heide Göttner-Abendroth erweckt diese Kultur in der von ihr vor vielen Jahren gegründeten Akademie Hagia zu neuem Leben. In ihrem neuen Buch hat sie die in der Akademie gelehrte Praxis der acht matriarchalen Mysterienfeste und die Lebensstadienfeste ausführlich beschrieben. In matriarchalen Kulturen wird der Jahreskreis mit dem Lebenskreis parallel gesehen: „Wie die Vegetation im Frühling erwacht, im Sommer groß wird und blüht, im Herbst Früchte trägt und im Winter welkt und stirbt, folgt auch das menschliche Leben dem Zyklus von Wachsen in der Jugend, Früchte tragen im Erwachsensein, Welken und Sterben im Alter.“ Immer in der freien Natur stattfindend, werden die im Zyklus der Jahreszeiten mit Ritualen und Tänzen gefeierten Feste, wie Ostara im März oder das Sommerfest im Juni, im Buch vorgestellt. Bei den ebenfalls im Buch beschriebenen Lebensstadienfesten wird der Lebensweg der Menschen gefeiert – bekannt ist vor allem das wichtige Fest der Mädchen-Initiation, der ersten Menstruation, wenn eine Jugendliche allmählich zur Frau wird. Das Buch ist mit sehr schönen Bildern ausgestattet. Heide Göttner-Abendroth erklärt nicht nur die kulturhistorische Bedeutung der Feste, sondern geht auch auf ihre Verchristlichung und Verfremdung ein.
Matriarchale Mythologie spielte eine große Rolle für die großen Zeremonien und Volksfeste, die im Laufe eines Jahres weltweit von Indien über Westasien und dem Mittelmeerraum bis Europa stattfanden und die der Boden für unsere eigene kulturelle Tradition sind. In ihnen werden von Frauen und Männern die Wunder des Lebens gefeiert: die Geburt, das Wachstum, die Liebe, das Reifwerden, der Tod, die Wiedergeburt. So kann die moderne Matriarchatsforschung heute als Grundlagenforschung und als neues philosophisches Paradigma gesehen werden.
In ihr Buch hat Heide Göttner-Abendroth auch die sehr alten Bilderkarten des Tarot einbezogen, die sie – weit entfernt von esoterischen Spekulationen oder trivialen Voraussagen – unter einem kulturhistorischen Aspekt auf die Symbolik des matriarchalen Jahreskreises hin untersucht hat. Dass auch die Astrologie matriarchale Wurzeln hat, erklärt sie im letzten Teil ihres Buches. (B.O.)