Projekt Beschreibung

Eine Entdeckung – hilfreich und gut

MutterlandBriefe, Nr. 26, Frühling 2022

Klagen will ich nicht, nur feststellen: Wir leben in Zeiten von größter Trennung, Trennung und getrennt sein von Allem – und das von Kindheit an. Trennung macht Angst vor Verlust. Deshalb frage ich mich immer wieder, ist es möglich, dies zu überwinden und Unbeschwertheit zu erlangen? Oft kommt mir dann in den Sinn: Dafür brauchen wir Verbundenheit mit dem Mütterlichen, mit der Erde und ihren Gaben, mit Mächten der Natur, ja, mit dem Universum. Mitten in einer solchen Phase des Nachdenkens, sogar Grübelns, trifft dieses Buch von Bettina Bremer bei mir ein.

Schon als ich es in den Händen halte, hin- und herwende, und die mehr als 400 Seiten über meinen Daumen laufen lasse, habe ich das Gefühl, dass es sich um etwas Bleibendes handelt, ein bisschen so als wäre dieses Werk schon immer da gewesen und nun endlich bei mir gelandet. Versteht mich nicht falsch: Dieses Buch ist brandneu, ist auf dem neuesten Stand, was Darstellung, Interpretationen, Bebilderung und Quellen betrifft, insgesamt fundiert und hochaktuell. Der reiche Inhalt, die Weisheit des Bildes sprang mir sogleich entgegen: Überlieferte Zeichen, Formen, Bildnisse, fortlebende Bräuche des Weiblich-Göttlichen bei uns und anderswo.

Ich genehmige mir, nicht alles der Reihe nach lesen zu müssen. Die Einleitung allerdings lese ich als erstes, das muss sein. Bereits da wird klar, dass die Autorin einen Schwerpunkt in Hessen, wo sie herstammt, gesetzt hat und von da aus den Bogen an andere Orte der Welt spannt. Das imponiert mir sehr, denn es verheißt: Auf diese Art und Weise können Verbindungen aufgezeigt werden.

Obwohl wir uns gerade auf das Frühjahr zu bewegen und sich in mir Frühlingsgefühle breit machen, bleibe ich beim Durchstöbern in den Kapiteln über das Christkind und seine Ahninnen hängen. Diese befinden sich am Ende des Buches, denn, der Thematik gerecht werdend, folgen alle Kapitel dem Rad des Jahreskreises und das beginnt nun mal im Februar. So erzählt das erste Kapitel vom Lichtfest, von der Fastnacht und von tanzenden Strohbären. Auch das macht sehr neugierig, aber mein kindliches Gemüt drängt es zur Gestalt des Christkindes. Da erfahre ich, dass einst das Christkind das Reich der Frau Holle übernommen hat. In einer der Fußnoten (die allesamt lesenswert sind) steht sogar, dass das Christkind nicht aus dem Himmel kommt, sondern aus urzeitlichen Felsgrotten, wie Frau Holle auch. Frau Holle, die auf kalten windigen Höhen residierte und am Schicksal der Welt wirkte, zog in der Weihnachtszeit, in der Mutternacht, auf dem Wagen umher und brachte der Welt Fruchtbarkeit und den Menschenkindern Geschenke. Nach und nach verdrängte die Erscheinung des Christkindes, das in manchen Gegenden auch als ihre Tochter angesehen wurde, die göttliche Gabenbringerin Frau Holle.

In der Mitte des Buches, im Kapitel über die drei Schicksalsfrauen, erfahre ich noch mehr zum Christkind, ich bin begeistert. Das hätte mir als Kind schon begegnen sollen, vielleicht hätte ich mich dann – mit dem einen Christkind als Gegenüber, als Spiegel meiner jungen Seele – nicht so allein und zerbrechlich gefühlt. In diesem Buch nun springt mir auf Seite 200 ein Foto entgegen, auf dem drei Christkinder nebeneinander zu sehen sind, drei kindliche Wesen, von Kopf bis Fuß mit weißen Schleiern umhüllt! In einigen Gegenden kam das Christkind also zu dritt zu den Menschen. Gern versenke ich mich in die (belegte) Vorstellung eines verdreifachten Christkindes.

In dieser Stimmung suche ich weiter, hoffend, dass ich aus der herkömmlichen, uns prägenden Kultur, Weiteres finde, zu dem mir dieses Buch, das zu den Ursprüngen zurückgeht, andere Zugänge aufzeigt. Im Titel schon werden die Sirenen angesprochen. Ich lasse die Vorstellung, die ich von Sirenen habe, in mir aufsteigen. Ganz offensichtlich habe ich sie als gefährlich in Erinnerung, als Verführerinnen, als Warnerinnen und als solche, die ganze Schiffsbesatzungen in den Untergang führen können.

Durch die Autorin Bettina Bremer, die für den Christel Göttert Verlag „Hebamme“ zahlreicher Bücher war – unter anderem begleitete sie das umfangreiche MA-Buch (die Sprache unserer Ursprungsmutter) – erfahre ich sehr viel und sehr Differenziertes über Sirenen. Sie schauen aus wie Nixen, jedoch mit doppeltem Fischschwanz; der Mittelmeerraum soll ihr Zuhause sein. Es sind mächtige, göttliche Frauen, ihr Bild in Stein gehauen, Säulen tragend, mit Kronen geziert, an Kirchenwände gemalt, auf Städtewappen festgehalten, die Schwänze wie Beine hochhaltend (und damit an geflügelte Göttinnen erinnernd), die Haltung der Baubo einnehmend, manchmal die Vulva betonend, dort wo das Leben herkommt und wo es wieder hingeht. An manchen Orten weisen die Sirenen (Dea Nutrix) mit ihren Händen auf ihre nährenden Brüste, so wie wir es von den frühen Große-Mutter-Figuren wie der Venus von Willendorf kennen. Am Eingang des Badehauses im hessischen Bad Nauheim zum Beispiel halten sie die Arme angewinkelt nach oben, auch das ist eine alte, heilige Geste, durch welche Energien eingeladen werden und Schutz ausgestrahlt wird. Bild um Bild, eines eindrücklicher als das andere, präsentiert uns die sammelnde und forschende Autorin.

Ich lese weiter zu den Sirenen, der Radius, aus dem die Entdeckungen präsentiert werden, wird größer und größer, die Zusammenhänge werden klarer, die historische Verbindung und die Verbindung der Orte wird immer deutlicher. Ich fühle mich dabei wohl: Da ist sie, die Verbundenheit, die Ganzheit, die Bezogenheit.

Auf dieser immateriellen Reise, angestoßen durch die Lektüre, halte ich plötzlich an: Meine eigene heimatliche Stadt ist aufgetaucht. Am Gerechtigkeitsbrunnen (wo Justitia mit offenen Augen in die Welt schaut) am Römerberg vor dem Rathaus in Frankfurt am Main befinden sich am oberen Sockelaufbau zwei wasserspeiende Sirenen. Ein paar Schritte weiter im Innenhof vor dem Kaisersaal steht der Herkulesbrunnen. Dort … ist ein Relief angebracht, mit einer Raute (Symbol der Vulva) als Rahmen, darin die zweischwänzige Sirene. In diesem Fall hält sie die Arme ausgestreckt die Balance haltend und damit gleichzeitig ihr Haar ausbreitend, es gleicht einem Schutzmantel, ein solcher, wie wir ihn von den Schutzmantelmadonnen kennen. Das Relief ist in der Zeit des Jugendstils entstanden.

Ich frage mich, wie konnte das sein, warum sind dir solche Zeichen in deinem eigenen nahen Umfeld bisher entgangen? Das soll jetzt anders werden. Die Lust, loszuziehen und all die Schätze, besonders die vor meiner Haustür, welche in diesem Buch zusammengetragen wurden, leiblich aufzusuchen, lässt mich nicht mehr los. Ich ahne schon, ich werde Lebendigkeit aus diesen „ewigen Weltgeschichten“ schöpfen und dadurch am großen, alles verbindenden Netz mitknüpfen.

Mit Umarmungen und in Verbundenheit
Uscha