Projekt Beschreibung

Das Matriarchat lebt von Fürsorge

netzwerk ethik heute, 17.8.2020

Interview zum Film „Mutterland“

Rund 200 Matriarchate gibt es heute weltweit. Hier verteilen die Frauen die Güter und sorgen für eine mütterliche Kultur der Fürsorge in der Gemeinschaft. Filmemacherin Uschi Madeisky spricht im Interview über ihren neuen Dokumentarfilm „Mutterland“ und ihre Faszination an mütterlich-orientierten Lebensformen.

Das Interview führte Michaela Doepke

Frage: Frau Madeisky, wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm über das alternative Leben der Minangkabau in Indonesien zu drehen? Diese bilden mit mehreren Millionen Angehörigen derzeit die größte matriarchale Gesellschaft der Welt.

Uschi Madeisky: Mein großes Thema sind Matriarchate in dieser Welt. Es gibt sie in allen Erdteilen, nur nicht in Europa. Und begegnet ist es mir zum ersten Mal Mitte der 1990er Jahre. Das war auf einer Bilungsreise in ein untergegangenes Matriarchat nach Çatalhöyük, eine Ausgrabungsstätte aus der Jungsteinzeit in der Türkei. Dort habe ich erfahren, dass auch zeitgenössische Matriarchate existieren. Ich recherchierte und besuchte mit der Kamera als erstes die Khasi im Nordosten Indiens. Danach folgten weitere Filme.

Wieviel lebende Matriachate gibt es auf der Welt?

Man spricht von über 200 kleineren und größeren Gesellschaften, die eben nicht patriarchal sind.

Was sind die besonderen Merkmale eines Matriarchats?

Es gibt dort keine Hierarchie, keine Unterdrückung, keine systematische Gewalt. Wir sprechen von einem Matriarchat, wenn die Menschen in Clans zusammenleben und sich über die mütterliche Line definieren. Mutterclans sind essenziell: Grund, Boden, Haus und Hof sind in Frauenhand. Das heißt aber nicht, dass die Frau herrscht, sondern sie verteilt die Güter. Man muss sich das als mütterliche Gesellschaftsordnung vorstellen.

Matriachate werden ja oft fälschlicherweise als Umkehrung des Patriarchats angesehen.

Genau. Das steckt immer noch in allen Köpfen. Und ich weiß nicht, warum das nicht endlich verschwindet. Man kann es sich wohl nicht anders vorstellen. Man glaubt immer, Gesellschaften funktionieren nur über Macht. Aber hier geht es um Ausgleich, Beziehung, Verbundenheit. Und dafür sorgen die Matriarchate.

„Wenn alle fürsorglich sind, kommt niemand zu kurz“

Was fasziniert Sie besonders an der Gesellschaftsform des Matriarchats? Was läuft dort anders als in einem Patriarchat?

Ich erlebe dort ausgeglichene und stabile Menschen, nicht angstbesetzt, die andere nicht jagen und sich selbst auch nicht unter Druck setzen. Ich erlebe eine fürsorgliche Art. Sie haben die menschliche Beziehung über alle anderen Werte gestellt.

Interessant fand ich im Film, dass sich das Hochzeitspaar als Ritual gegenseitig füttert. Erst wird dafür gesorgt, dass es dem anderen gut geht. Wie wirkt sich dieses Prinzip des Caring auf die Gesellschaft aus?

Jeder achtet als erstes darauf, was der andere braucht. Und da das alle machen, kommt niemand zu kurz. Und alle haben die Gewissheit und Zuversicht, dass sie stets gut versorgt werden. Sie müssen nicht darum kämpfen und haben als Kind auch keinen emotionalen Mangel erlitten, denn sie sind nicht isoliert aufgewachsen und ihr Sein wurde nicht an Bedingungen geknüpft. Sie sind schon ganz früh gut gesättigt mit menschlicher Beziehung und fühlen sich sicher und gehalten. Diese Erfahrung zieht sich dann durch das ganze Leben und durch die ganze Gesellschaftsstruktur.

Im Vorspann zum Film heißt es, in diesem Matriarchat gebe es keinen Neid, keine Eifersucht, keine Gewalt. Idealisieren Sie da nicht ein wenig?

Es ist so. Sie kennen das nicht. Sie haben gar keine Begriffe für etwas. Es hängt damit zusammen, dass sie persönlichen Besitz nicht anstreben, weil ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind. Und dadurch brauchen sie keine Dinge nur für sich, auch nicht einen Partner, der immer nur für sie da ist. Neid und Konkurrenz kommen in der Regel durch diese frühe Prägung gar nicht erst auf.

In den Beziehungen gibt es kein Besitzdenken als solches. Bei einer Trennung von Mann und Frau verbleiben die Kinder immer im Mutterclan und sind nicht hin- und hergerissen.

Ja, das ist so, zum Beispiel bei den Minankabau. Der Mann zieht mit der Heirat in den Clan der Frau. Das ist schon mal ein bedeutendes Merkmal, denn eine Frau verlässt ihren Clan, in dem sie geschützt ist und Bedeutung hat, nicht. Und der Mann hilft im Clan der Frau, ist dort Gast und gut angesehen. Es geht ihm gut dort.
Wenn das Paar sich trennt, kann er in seinen Mutterclan zurückgehen oder er zieht bei einer anderen Frau ein. Wir müssen uns das so vorstellen, wenn Menschen heiraten, verbinden sich Clans, die Einzelpersonen stehen nicht im Vordergrund. Sie achten auf eine große gesellschaftliche Balance. Dazu dient die Heirat. Mit der Art wie wir in Kleinfamilien leben hat das nichts zu tun.

Wie sind der Kontakt und das Konfliktpotenzial mit den umgebenden Gesellschaften?

Matriarchate haben von je her Kontakt zu patriarchalen Gesellschaften im Umfeld und bestehen trotz der vielen Einflüsse immer noch. Sie haben viele äußere kulturelle Dinge adaptiert. Wir können sagen, sie werden meist vom Umfeld stark respektiert. Denn das Umfeld sieht auch, dass dort ein gutes Leben herrscht und alle versorgt sind. Die Minankabau haben z.B. mit dem Islam vor ca. 600 Jahren einen Pakt geschlossen, der besagt, dass ihr matriarchal mütterliches Recht genauso wichtig ist wie der kulturelle Islam. Und so passt das gut zusammen.

Wo die freien Frauen wohnen

Ein anderer Film von Ihnen heißt „Wo die freien Frauen wohnen“ über das Leben der Mosuo, ein Matriarchat in Südchina. Inwiefern sind die Frauen dort frei?

Das hat mehrere Gründe. Zum einen sind sie nicht von einem Mann abhängig, zum anderen haben sie ihren Mutterclan schützend hinter sich und werden ermuntert, individuellen Vorlieben und Interessen nachzugehen.

Die Frauen sind so frei, wie wir es uns hier nur wünschen können, weil sie bei ihrer Hausarbeit, Kinderbetreuung und anderen wichtigen Tätigkeiten von anderen Frauen oder Männern im Clan unterstützt werden. Und da diese Arbeit geteilt wird und dabei auch noch fröhlich geschehen kann und nicht in Einsamkeit, sind sie wahnsinnig frei. Sie können z. B. studieren und gleichzeitig Babys haben und all solche Dinge.

Heißt das, man erlebt nicht wie bei uns eine Doppelbelastung und völlig überarbeitete und erschöpfte Mütter? Ist es dann so, dass ein Kind quasi mehrere Mütter hat?

Ja, das kann man so sagen. Es gibt mehrere Frauen, die nach ihm schauen. Das sind die Tanten in der mütterlichen Linie, die zusammenlebt.

Ich fand auch interessant, dass es in diesen Kulturen das Wort Vater gar nicht gibt.

Stimmt. Sie haben es später gehört von unserer Kultur. Der Vater ist nicht interessant. Der Onkel ist die männliche Bezugsperson, also der Bruder der Mutter.
Mann-Frau-Balance bedeutet Schwester-Bruder. Sie sind aus einem Mutterleib entstanden. So muss man sich die Geschlechterbalance dort vorstellen.

Die moderne westliche Welt ist eher nicht von einer fürsorglichen Gemeinschaftsstruktur, sondern vom Individualismus geprägt. Wie ist in dieser Hinsicht Ihr Blick auf unsere moderne Gesellschaft?

Ja, wir haben die Fürsorge an Institutionen delegiert. Im Matriarchat dagegen funktioniert sie über menschliche Beziehungen. Das ist der große Unterschied. Im Matriarchat wissen alle, wenn jemand etwas braucht und in Not gerät, dann bekommt er es. Da muss niemand über die Stränge schlagen oder betrügen oder sich über alle Maßen verbiegen und anstrengen.

Mütterliche Werte in unsere Gesellschaft integrieren

Welche Impulse können wir aus dem Matriarchat übernehmen? Es gibt dank Subsistenzwirtschaft keine Armut, niemand wird ausgegrenzt aus der Gemeinschaft.

Es ist ja nicht nur bäuerliche Subsistenzwirtschaft, die das Matriarchat ausmacht. Die Mingankabau etwa leben städtisch. Daran können wir sehen, dass wir dieses Modell in jede Art von Zivilisation integrieren können.

Zunächst einmal ist natürlich die Fürsorge für die anderen zentral. Alte Menschen oder Mütter werden nicht isoliert. Und über allen Werten steht die Mutter als Symbol. Das kann sich auch auf Männer beziehen. Auch Männer können mütterlich sein.

Wir könnten sozusagen das Mütterliche als Zentrum nehmen, als Wert, wie eine Gesellschaft aufgebaut sein kann. Wenn wir einander so fürsorglich begegnen, ist schon viel getan.

Es gibt auch alternative Ansätze bei uns im Westen. Sie gehen in Richtung alternative Währung, in Bewegungen wie Transition Town, ökologische Landwirtschaft, ganzheitliche Heilweisen, Wohnprojekte, Genossenschaften etc… Wir Filmerinnen werden häufig von alternativen Projekten und Gruppierungen angefragt und unterstützen alternative Lebensformen. Aber ich denke, ihnen fehlt noch der mütterliche Zusammenhalt.

Wenn wir uns einigen könnten und unser Land Mutterland nennen, dann wären wir auch weit weg von unserem Vaterland, was uns kein Glück gebracht hat, kein gutes Leben. Wenn wir uns einig sind im Umgang miteinander, in unserer Kultur, in der Wirtschaft, in unseren Künsten und allem, was wir so Produktives gestalten, könnten wir es schaffen. Es geht nur gemeinschaftlich.

(https://ethik-heute.org/das-matriarchat-lebt-von-fuersorge/)