Projekt Beschreibung

Wir alle wurden von einer Mutter geboren

Oya, Nr. 61: Matriarchale Perspektiven, Dez. 20 – Febr. 21

Zur wechselhaften Geschichte der Würdigung und Diffamierung von Mütterlichkeit

»Wir alle wurden von einer Mutter geboren«. Diesen Satz wiederhole ich in Vorlesungen, Vorträgen und Gesprächen immer wieder. Er dient dazu, den Bann zu brechen, unter dem das Wort »mütterlich« in unserer Zeit zu stehen scheint. Regelmäßig brandet Ablehnung auf, wenn ich etwa im Zusammenhang mit der Ökologiedebatte von »Mutter Erde« und »Pacha Mama« spreche oder für die Anerkennung von biologischer Geschlechterdifferenz plädiere.

»Muss ich jetzt Mutter werden?!“, so reagieren junge, durchaus umweltbewusste Frauen, wenn ich die Notwendigkeit hervorhebe, nach mütterlich-vorsorgenden Prinzipien zu denken und zu handeln. Zu tief sitzt das Trauma der patriarchalen Degradierung der Frau zur Menschenzucht, angefangen beim Frauenraub und der Versklavung zum Gebär- und Arbeitstier (wie es dem Anthropologen James C. Scott zufolge in frühen mesopotamischen Stadtstaaten der Fall war), über die Unmündigkeit der Frau in der attischen Demokratie (die sich als Wahlunmündigkeit bis ins 20 Jahrhundert fortsetzte), grausam verstärkt durch die Hexenverfolgung der aufklärerischen Neuzeit, bis hin zur Etablierung der abhängigen Hausfrau mit der Lohnarbeitergesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert und der fortgesetzten Geringschätzung der Care-Arbeit im 21. Jahrhundert.

Das Muttersein wird unsichtbar gemacht, sowohl in der Philosophie als auch in der Ökonomie (»Ich arbeite nicht, ich bin Hausfrau«), – wenn auch freilich nicht in der wirklichen Wirklichkeit. Nach wie vor werden die Kinder aus den Müttern geboren, obwohl die Machenschaften in der Tier- und Pflanzenzucht ihre drohenden Schatten auf die menschliche Reproduktion bereits vorauswerfen.

Frauen ist die anerkennende Wertschätzung von Mutterschaft und Gebärfähigkeit entzogen worden. Begleitet wird diese durch ideologische Entwurzelung auf der einen Seite und wurzellose Idealisierung auf der anderen: Anstatt mütterliche Qualitäten – jenseits von Selbstausbeutung in patriarchalen Kleinfamilien, die erst in der europäischen Moderne entstanden – sichtbar zu machen und gesellschaftlich in Wert zu setzen, wird Mutterschaft entweder blankweg abgelehnt oder mit einem Heiligenschein versehen – so wie das »Mutterkreuz« der Nazis mit der Vernutzung der Frauen an den Fließbändern der Munitionsfabriken verbunden war. Auch dieses Trauma wirkt bis heute fort. Beim Wort »Mütterlichkeit« brechen die Klagen über die lieblose Mutter los, die sich nicht hinreichend aufgeopfert habe. Sie wird am Glorienschein gemessen, statt an ihrer und unser aller Lebenswirklichkeit. Wo bleibt die Solidarität der Kinder – zumal der Töchter – mit den Müttern? Wie sind wir bis hierher in diesen Sumpf geraten?

Archäologie der Altsteinzeit

Mit diesem opulenten Band von Annine van der Meer liegt nun eine großartige Dokumentation vor, die es ermöglicht, den Weg der Entwürdigung und Diffamierung des Mütterlichen von der Altsteinzeit bis in unsere Tage nachzuvollziehen. Wie die Autorin im Vorwort betont, ist die voluminöse Materialsammlung mit den Darstellungen der Urmutter MA und den Transformationen, die sie im Laufe der Zeit erfahren haben, »ein völlig neues, überarbeitetes, erweitertes und aktualisiertes Buch« gegenüber der niederländischen Originalausgabe von 2009 und der englischen Publikation von 2013. Dass ein kleiner Verlag wie der von Christel Göttert solch ein Vorhaben stemmt, kann nur bewundert werden. Die Qualität der Abbildungen ist genauso hervorragend wie der Anmerkungsapparat. Hier handelt es sich um ein Nachschlagewerk, das in keiner Bibliothek und keinem Bücherschrank von Menschen fehlen sollte, die sich mit den drängenden Menschheitsfragen unserer Zeit beschäftigen – sei es Ökologie, sei es alternative Landwirtschaft, sei es Degrowth, sei es allgemein das Ringen um eine andere Gesellschaftsverfassung.

Viele werden sich bei der Lektüre an das Werk »Die Sprache der Göttin« von Marija Gimbutas erinnert fühlen … Bereits das Titelmotiv knüpft an die Arbeit der litauisch-US-amerikanischen Archäologin an, die anhand der steinzeitlichen Funde von Figurinen und Keramikmustern in Alteuropa eine weiblich-mütterliche Symbolsprache erkannt hatte, aus der sich schließlich eine Protoschrift entwickelt. Annine van der Meer ist keine Archäologin, sondern Historikerin und Theologin sowie jahrzehntelang beharrliche Sammlerin von weiblich-mütterlichen Bildnissen, und zwar rund um den Erdball. Dabei entdeckte sie ursprüngliche, symbolsprachliche Gemeinsamkeiten über die Kontinente und Zeiten hinweg. Naheliegenderweise ist die Symbolhaftigkeit hier auf einer abstrakteren Ebene gemeint. Marija Gimbutas ging es darum, die zivilisatorische Leistung der frühen europäischen Kulturen zu zeigen: dass diese wahrhaftige Kulturleistungen wie eben die Protoschrift hervorbrachten, die die Bezeichnung »Zivilisation« verdienen, im Gegensatz zum herrschenden, zumal akademischen Diskurs zum europäischen Neolithikum; und zwar einer Zivilisation, die nicht auf Krieg und Hierarchie beruhte, wie die anerkannten »Zivilisationen«, sondern auf der Verehrung von Werden und Vergehen, das neues Leben hervorbringen, repräsentiert durch die weiblich-mütterliche Figur. Auf diese Arbeit baut Annine van der Meer auf.

Wiederaneignung des Weiblichen

Ähnlich wie in Gimbutas Werk sind auch hier die (überwältigend zahlreichen) Abbildungen so präsentiert, dass die Lesenden und Schauenden die Symbolverbindung über Zeiten und Kontinente hinweg gut nachvollziehen können. Jedes der acht Kapitel von Teil I schließt mit einem farblich unterlegten Kasten unter der wiederkehrenden Überschrift »Erinnere deine Muttersprache«.

Das Anliegen der Autorin wird auch an anderen Stellen, an der Wortwahl und freilich auch an den entsprechenden Erläuterungen deutlich. Sie ist empört, fast möchte ich sagen »zutiefst verletzt« von der Pervertierung und Entwürdigung des Weiblich-Mütterlichen durch patriarchale Schmutzkampagnen. In der Hinsicht pflichte ich ihr bei – jedoch mischt sich bei mir ein Wermutstropfen in die Freude über dieses Werk: Gleich am Anfang, in Teil I stolpere ich über folgende Überschiften: »Die Venus von Willendorf als Höhepunkt der ursprünglichen Wollust« und »Venus von Willendorf als Callgirl«. Annine van der Meer möchte damit wohl aufrütteln und an die Frauenbewegung anknüpfen, als sie noch eine soziale Bewegung war, die sich anhand der Empörung machtvoll bewegte. Das kann jedoch nicht gelingen, so meine ich, indem der entwürdigenden Pervertierung nochmals Raum gegeben wird. Auch sollte Annine van der Meer meiner Meinung nach weder von »Venus-Kunst« sprechen, und damit einem Begriff des humanistisch-patriarchalen 19. Jahrhunderts Vorschub leisten, noch von »Lady«, dem entsprechenden Begriff der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert.

Jenseits dessen leistet dieses Buch einen wichtigen gesamtgesellschaftspolitischen Beitrag zu einem neuen und zugleich altehrwürdigen zivilisatorischen Paradigma, das in unserer Zeit dringend nottut – das feministische Aufbauwerk kann mit erneut entfachtem Stolz, Selbstbewusstsein und positiver Würdigung von Frauen und Müttern wirklich kraftvoll in die Gesellschaft hineinwirken!

In »Teil II. Erinnerung an unsere Muttersprache« zeigt die Autorin, dass und in welchen Formen sich die Symbolsprache der Mutter – als unser aller Ursprungsmutter verstanden – fortsetzt. Sie orientiert sich dabei sowohl an volkskundlich erforschten Überlieferungen der Landschaftsmythologie als auch der Tiersymbolik, die sich auch zahlreich in der kirchlich-christlichen Ikonografie finden. Sie kehrt deren mütterliche Sprache hervor, die sie trotz aller Verdrehung und Verleumdung nie verloren haben. Mir fiel sogleich eine Abbildung der »Hand der Fatima« ins Auge und auf derselben Seite entdeckte ich die »Annahand«, die mir aus süddeutschen Andachtsbildern in Erinnerung ist. Auch auf anderen Erdteilen repräsentiert die Hand die Hilfe bei der Geburt, steht als Piktogramm für verschiedene Segenssprüche und wurde in der priesterlichen Segenshaltung schließlich patriarchal angeeignet.

In Teil II tut sich eine Welt auf, die uns vertraut zu sein scheint, ohne es in einem tieferen Sinn zu sein. Das Buch ist eine wahrhaftige Fundgrube und ein wertvolles Nachschlagewerk, das dabei helfen kann, alte Erscheinungsformen neu zu lesen! Ich wünsche dem Buch weite Verbreitung, damit es dazu beitragen möge, das Mütterliche wieder in Wert zu setzen und seine Geringschätzung zu überwinden.

(Veronika Bennholdt-Thomsen)