Projekt Beschreibung

Die Care-Seite der Welt

Im Klassiker der Subsistenzperspektive »Eine Kuh für Hillary« von Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies findet sich die bezeichnende Grafik eines Eisbergs: Unterhalb der mit »Kapital und Lohnarbeit« betitelten sichtbaren Spitze liegt der ungleich größere, von der Wasseroberfläche aus unsichtbare Kiel des geringgeschätzten, ausgeblendeten Bereichs der Subsistenz- und Fürsorgearbeit. In europatriarchalen Gesellschaften wird diese Kehrseite oder »Care-Seite« der Welt seit Jahrtausenden ausgeblendet.

Ebendiese erdende, lebenserhaltende Grundlage, die alle anderen gesellschaftlichen Aktivitäten erst ermöglicht, erkundet die feministische Theologin und »freie Hausfrau« Ina Praetorius in diesem inspirierenden Büchlein … Die Reiseführerin durchs »postpatriarchale Durcheinander« ist Xanthippe, die sprichwörtlich gewordene, heute als Hausdrachen verfemte Frau des altgriechischen Philosophen Sokrates. Während für ihren zu Jenseitsflucht und Transzendenz neigenden Gatten die Sterblichkeit der gemeinsame Nenner aller Wesen und der Tod eine Art Erfüllung des Lebens war, steht Xanthippe für das Prinzip der Geburtlichkeit: Wir wurden alle von einer Mutter geboren, und die Materie (von mater, »Mutter«) ist der verbindende Grund, der uns alle trägt, einbettet und hält.

Was hat es nun mit dem titelgebenden »postpatriarchalen Durcheinander« auf sich? Durch dieses vieldeutige Begriffspaar ermöglicht die Autorin, das In-der-Welt-Sein vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das Patriarchat sei zu Ende, verkündet Praetorius hoffnungsfroh zu Beginn des Buchs. Die erste Bedeutung von »Durcheinander« bezeichnet somit das Wegfallen patriarchaler Ordnungen und begrifflicher Dualismen, das gegenwärtig für ein gehöriges Maß an Chaos und Verwirrung sorgt. In der zweiten Bedeutung – klein und getrennt als »durch einander« geschrieben – bezeichnet der Begriff den Umstand, dass niemand eine Insel ist, sondern unsere Freiheit immer nur eine Freiheit in Bezogenheit auf andere Wesen sein kann: Niemand ist in der Lage allein und losgelöst von allen anderen etwas tun; nur »durch einander«, also durch gegenseitige Fürsorge und Gemeinschaft, sind wir überhaupt lebensfähig – und sei dies die Gemeinschaft mit unseren Darmbakterien, ohne die wir keine Stunde am Leben blieben. Mit der dritten Bedeutung in der Schreibweise »durch ein ANDER« lenkt die Theologin den Blick darauf, dass es da noch etwas Unverfügbares, Numinoses, Göttliches geben mag, das das rein Menschliche übersteigt.

Diese schlanke und überaus gehaltvolle Grundlegung einer Philosophie der Geburtlichkeit – in der Sozialbeziehungen als Sorgebeziehungen vom oikos, vom Haushalt her gedacht werden – war für mich eine ungemein bereichernde und beglückende Lektüre. Sie sei allen, die Interesse an den in Oya behandelten Themen haben, wärmstens ans Herz gelegt!
(Matthias Fersterer)