Projekt Beschreibung
Bewegung in die Frauenbewegung
St.Gallener Tagblatt vom 4.11.2009
Gleichberechtigung in Ehren – aber damit steht die Frauenbefreiung erst an ihrem Anfang. Diese These vertritt die Theologin Ina Praetorius in einem neuen Buch.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Karrierechancen auch für Frauen, Hausarbeit auch für Männer: Solche Themen haben die Diskussion um Geschlechterrollen und Gleichberechtigung in den letzten paar Jahrzehnten geprägt, und nicht ohne Erfolg: Im Berufs- und Privatleben ist heute Gleichberechtigung, zumindest bei fortschrittlichen Unternehmen und Partnern, kein Fremdwort mehr.
“Weit über Gleichberechtigung hinaus…” titelt nun allerdings Ina Praetorius ihr eben erschienenes Büchlein, das sie heute Abend in St. Gallen präsentiert. Frauenbewegung ist darin als umfassendes politisch-gesellschaftliches Anliegen gedacht, das noch längst nicht erfüllt sei. “Gleichberechtigung hat uns gewissermassen offiziell die Tür zum Wissen und zur Weltgestaltung geöffnet. Die eigentliche Arbeit, das wirkliche Abenteuer liegt noch in der Zukunft”, schreibt Praetorius.
Gegen die Zweiteilung der Welt
Denn Gleichheit und gleiche Rechte seien für sich allein genommen noch kein Ziel – sondern bloss die Voraussetzung dafür, was die im Toggenburg lebende Theologin als “Weltgestaltung” bezeichnet. Frauen seien für diese Aufgabe nicht etwa von Natur aus die “besseren” Menschen – umgekehrt aber auch nicht “weniger wert” als die Männer, wie dies das patriarchale Abendland seit Aristoteles in den letzten zwei Jahrtausenden behauptet hat.
Trotz Gleichberechtigung habe sich nichts daran geändert, dass wir die Welt bis heute “sozusagen als patriarchales Ehepaar” denken: Mann und Frau, Vernunft und Gefühl, Natur und Zivilisation, oben und unten usw. Diese doppelte Optik will Praetorius nicht einfach vom Kopf auf die Füsse stellen, sondern grundsätzlich in Frage stellen. Wie, das illustriert sie an einer Reihe von Beispielen.
Statt Frauen etwa mangelndes Selbstbewusstsein vorzuwerfen, könne man darin auch die Fähigkeit sehen, “Orientierungslosigkeit einzugestehen und ernst zu nehmen” – kein geringes Talent in Zeiten der Umwälzung. Oder: Wer sich wundere, weshalb die Frauen aus der politischen Sphäre so lang ausgeschlossen waren, könnte auch umgekehrt fragen: “Wo waren sie denn sonst”, wenn nicht an jenem Ort, wo über richtige und falsche Politik gestritten wurde und wird? “Und: ist es dort, wo sie sind, vielleicht interessanter?”
Das neue Denken und Fragen, auf das Praetorius setzt, geht mit neuen Begriffen einher. Statt defizitär von “alleinerziehender Mutter” oder von “Arbeitslosen” zu reden, wären aktiv besetzte Wörter erwünscht. Was Praetorius vorschlägt (von “Erwerbsbefreite” oder “Substistenzlerin” bis zu “Sinnsucherin”), tönt allerdings gequält. Oder: Statt von “Krankheiten” im Plural, von “Gesundheit” jedoch nur im Singular zu reden, ginge es um die Erfahrung unterschiedlicher “Gesundheiten” – und damit wieder um die Auflösung überlieferter Schwarz-Weiss-Muster der Selbstwahrnehmung und des Denkens.
Mensch statt Markt
Anderswo wird es handfester. Ökonomisch plädiert Praetorius für ein leistungsunabhängiges Grundeinkommen, zumindest als Übergangslösung, und für den Primat der menschlichen Bedürfnisse gegenüber den angeblichen Bedürfnissen des Marktes.
Die Wirtschaft als Grosshaushalt statt als Kapitalmaschine: So könnte eine weibliche Ökonomie aussehen. Ökologisch erhofft sie sich eine Abkehr vom Wahn, die Natur komplett verstehen und kontrollieren zu können – eine Haltung, die bis hin zum Wissenschaftsbetrieb gehe, wo Forscher (männlich) noch immer ihren Forschungsgegenstand als das zu Beherrschende (weiblich) ansehen.
Zum Schluss regt die Autorin an, den Menschen weniger von seiner Sterblichkeit her zu denken (im Sinn von Heideggers “Sein zum Tode”), sondern von der Geburt her. Dies, wie auch die anderen Themen, sind in der kleinen Streitschrift mehr angerissen als ausgeführt – Anregung zum Weiterlesen bietet eine ausführliche Literaturliste.
Ina Praetorius: Weit über Gleichberechtigung hinaus …, Christel Göttert Verlag Rüsselsheim 2009, Buchvernissage: Mi 4.11. 19 Uhr, Hotel Dom, St. Gallen. (Peter Surber)