Projekt Beschreibung

Was sich nicht beschreiben lässt

Virginia, Frühjahr 2022

Als erstes: Respekt! Als zweites: Danke! Doris Wind ist ein mutiger, tapferer Mensch, lebendig. Sie gibt nicht auf, sie erkämpft sich ihr Recht auf ein erfülltes Leben als Mensch mit allem, was dazu gehört, auf jeden Fall Glück, Liebe, Fürsorge, Geborgenheit, Sicherheit, Autonomie. Respekt und Dank, denn Doris Wind lässt die LeserInnen in ihrem autobiografischen Bericht teilhaben, an ihrem Leben, ihrer Suche nach Erkenntnis und dem ihr eigenen Weg der Bewältigung, der geprägt ist durch »eine unfassbare Sehnsucht«, so der Titel ihrer Veröffentlichung.

»Ich bin achtundfünfzig Jahre alt. Mein Großvater hat mir vom Kleinkindalter an über Jahre brutal sexualisierte Gewalt angetan, mich vergewaltigt und misshandelt. Wann genau das aufhörte, weiß ich nicht, er starb, als ich elf war.« Doris Wind erlebt auch durch die Mutter Gewalt, »bis ich mit siebzehn Jahren von zuhause weggelaufen bin. (…) Ich habe immer ums Überleben gekämpft, bis zum Alter von sechsunddreißig Jahren. (…) Bis heute leide ich unter Panikattacken und Ängsten außerhalb geschlossener Räume und wenn keine Menschen in der Nähe sind. Vor allem zu Fuß und mit dem Fahrrad. Bin fixiert auf geöffnete Geschäfte als Haltepunkte. Öffentliches Leben gibt mir Sicherheit.«

Doris Wind wurde 1962 in der Nähe von Duisburg geboren, sie wuchs in einer typischen Siedlung auf, die in den 1950er Jahren für die Arbeiter der Mannesmann-Stahlwerke gebaut wurde, die Hierarchie zwischen den AnwohnerInnen entstand durch die Arbeit: Angestellter oder Arbeiter. Es gab in der Siedlung einen Lebensmittelladen, eine Kneipe, Trinkhallen, eine Pommesbude, die Grundschule und Kirchen, getrennt nach Konfession. Hinter der Siedlung Felder und ein Bach, die Orte für die Kinder, wo sie sich selbst überlassen spielten. Der Vater ist Angestellter, die Familie lebt im Reihenhaus. Nach dem frühen Tod des Vaters wird die Situation für die Familie schwierig, finanziell ist es knapp, sicherlich eine überfordernde Situation. Ein Milieu, in dem über die Nachbarschaft geredet wurde. Der direkte Kontakt wurde vermieden und vertrauensbildende Kontakte gab es nicht, alles eher trostlos, vereinzelt, einsam.
Nichts rechtfertigt allerdings die zerstörerischen Übergriffe und die mangelnde Empathie für das Mädchen Doris! Es ist auch nicht vorstellbar, dass niemand etwas von ihrer Not, der Gewalt mitbekommen haben soll, dass niemand den Mut hatte, den Großvater oder die Mutter zur Rede zu stellen, zu intervenieren. Umso bemerkenswerter, dass es Doris Wind gelingt, aus diesen Verhältnissen zu entkommen. Sie entwickelte kluge Überlebensstrategien: Kontakte zu anderen Jugendlichen (Partys, Freundschaft, aber auch Alkohol und Drogen), vertrauensvolle Annäherungen. Noch vor ihrem 18. Lebensjahr floh sie quasi aus der Familie, lebte mit einer Freundin in der ersten eigenen Wohnung, unterstützt von deren Familie und FreundInnen. Und eigentlich ging es so weiter: Wie alles im Leben, nichts ist für die Ewigkeit, und auch Doris Wind musste immer wieder neu anfangen, sich auf Veränderungen einlassen. Mit Anfang zwanzig lebte sie in Berlin in einer Frauen-WG, auf dem Heimweg aus der Disko überfiel sie plötzlich die erste Panikattacke.

»Plötzlich reist der Boden vor mir auf. Und ich stürze und stürze und weiß nicht wohin. Schweißausbrüche, Herzrasen und eine bodenlose Angst, wie ich sie nicht kenne. (…) An nichts konnte ich mich erinnern, die ersten zehn Lebensjahre weg, komplett, ein offenes Fragezeichen, eine Leerstelle. Nicht mal an schöne Dinge, an Banales, an Schule oder Kindergarten. Und dann brechen alle Dämme auf, es überrollt mich«

Doris Wind musste sich dem Erlebten stellen, es folgten Jahre, Jahrzehnte der Bearbeitung: Unterstützung von Freundinnen, Therapie, Klinikaufenthalte, therapeutische WG, Traumatherapie, Selbsthilfegruppen. Dann endlich wieder das Leben in einer WG mit Frauen und Kindern und der erfolgreiche Beginn und Abschluss einer Berufsausbildung, Grundlage für die weitere Lebensentwicklung, die erfolgreich ist.
Doris Wind hat ein Talent, die richtigen Worte zu finden, schafft eine bemerkenswerte Form, einen Text, der Bericht und Prosa mischt und so den richtigen Ausdruck auch für das findet, was sich nicht beschreiben lässt.

Die Lektüre lässt erst sprachlos zurück, soviel Gewalt! Doris Wind schafft es jedoch irgendwie weiterzugehen, sich zu entwickeln. Und dann ein Aufatmen: Doris Wind offenbart eine (Über-)Lebensstrategie: Sie bleibt neugierig und offen, sie wagt Brüche, auch wenn das, was kommen könnte, noch beängstigend unklar ist. Sie lässt sich auf Angebote ein und setzt sich kleine oder größere Ziele, macht sich immer wieder auf den Weg, erlebt Glück, sie will leben! Da ist nicht nur eine unendliche Sehnsucht, sondern auch ein sehr großes Potenzial! Spannend ist zudem, dass dieser autobiografische Bericht eine Zeitreise ermöglicht, einen Einblick in gesellschaftspolitische Entwicklungen und alternative Lebensentwürfe: feministische Wohngemeinschaften, die das persönliche auch als politisch begreifen, gelebte Solidarität in autonomen politischen Strukturen, die ermöglichen, frei zu denken, Dinge zu probieren. Klar, auch dabei passieren Fehler, Ausgrenzungen, aber es kommt auf die Versuche an. Und offene Strukturen jenseits des engen Rahmens der biologischen Kernfamilie sind wirklich ein Gewinn für alle! Insofern ist Doris Winds Titel auch ein Appell, hinzuschauen, zu wagen! Danke.

(Raphaela Kula)