Projekt Beschreibung

Mit Mut und Phantasie

Virginia, Herbst 1987

“… Statt herkömmlicher Portraits oder wissenschaftlicher Abrisse haben Frauen auch aufgeschrieben, wie sie sich einer von ihnen selbst gewählten, oft spärlich, oft verzerrt überlieferten historischen Frauengestalt aus Politik, Kunst, Wissenschaft oder Mythologie näherten. Annäherung auf Abstand zunächst oder spontan, weil sie kaum etwas oder sogar schon viel von ihr wussten, weil sie ihren Namen noch nie gehört hatten, weil sie denselben oder einen verwandten Beruf ausüben, am selben Tag geboren sind oder ihr Vorname übereinstimmt.

Sich überhaupt einzulassen auf die Suche nach der verlorenen Frauengeschichte, dazu bedurfte es einer Herausforderung: ’The Dinner Party’, das Kunstwerk der Amerikanerin Judy Chicago, das 39 Frauen symbolisch um eine für sie gedeckte Tafel gruppiert und die Namen von 1000 weiteren für die Frauentradition bedeutenden auf dem verbindenden Kachelboden nennt, machte den Funken überspringen. Dagmar von Garniers Doppelidee, das Kunstwerk in Deutschland zur Ausstellung zu bringen und dies mit einem ‚Fest der 1000 Frauen’ in der Alten Oper Frankfurt zu fördern, regte 600 Frauen dazu an, sich gründlich mit einer historischen Frau zu befassen, um sie dann im Gewand ihrer Zeit beim Fest zu vertreten. Für jemand stehen, und sei es auch nur einen Tag lang, anstelle jemandes sprechen, die Verlockung allzu starker Identifikation, die Abwehr, eingeengtes Leben zu verkörpern, gar Not und Vernichtung einer Frau sichtbar zu machen, setzt einen ganz anderen Prozess in Gang als rein wissenmäßige Daten- und Tatenforschung.

Deshalb konnten Berichte entstehen, die ganz individuell Fakten, Atmosphäre und Ausstrahlung in eins fassen. Wie oft wird da gängiger Geschichts- und Schulbuchstoff entlarvt als gerade ins politische Konzept passende Interpretation, wie beispielsweise bei Florence Nightingale, die als barmherzige ‚lady with the lamp’ immerhin im Geschichtsunterricht auftauchte, aber auch nur das. Ihre soviel eigenwilligere Persönlichkeit und ihr Ziel, Krankenpflege zum gut bezahlten, anerkannten Frauenberuf zu machen, wurden verdeckt. Mädchen bekamen die einseitige, aber politisch nützlichere Geschichte des sich in Krimlazaretten aufopfernden Engels zum Vorbild.

Die von dem griechischen Dichter Hesiod tendenziös verfärbte Charakterisierung der Göttin Pandora hat sich über zweieinhalb Jahrtausende gehalten. Angeblich brachte sie erstmals aus ihrer unheilvollen Büchse Krankheit und Tod über die Menschheit. Trotzdem kann Pandora als eine Erdschutzgöttin gelten, deren Symbol lebensspendende Gefäße waren. Wenn es zu Machtkämpfen kam, wurden diese vom Sieger einfach negativ umgedeutet. Diese Situation von der Göttin löste ihre Vertreterin in phantasievollen Schritten. Sie deutet unsere heutige Situation als leeres Gefäß, das es neu zu füllen gilt, in der Hoffnung, so verlorene weibliche Maßstäbe wieder in die Gesellschaft zu tragen.

Damit sind nur zwei Stimmen aus dem Buch ‚Mit Mut und Phantasie’ angeklungen, doch alle Texte lesend sich anregend bis aufregend. Sie sind so verschieden wie die Frauen, die sie aufzeichneten. Immer spürbares Engagement macht sie über die Fakten hinaus spannend bis zu letzten Zeile. Von 194 geschilderten Begegnungen mit historischen Frauen konnten aus Kostengründen nur 85 aufgenommen werden. Helma Mirus und Erika Wisselinck ist in ihrem Herausgeberinnenwort anzumerken, wie ungern sie wegließen. Auch ich hätte gern weitergelesen, als das Buch zu Ende war.

‚Mit Mut und Phantasie’ ist kein Nachschlagewerk, sondern eine Dokumentation. Inge Müller erzählt einleitend von dem immensen Unterfangen, ein so großes, bisher nie gewesenes Fest auf die Beine zu stellen. Die Schriftstellerin und Feministin Erika Wisselinck äußert sich abschließend mit fundierter Kenntnis und ermutigender Aufrichtigkeit zu Politik und Spiritualität. Sie sondiert das geschichtliche Umfeld und leuchtet den aktuellen politischen Raum aus, in dem es Tabus brechen heißt, wenn Frauen patriarchale Muster hinter sich lassen.

Der ausführliche Bildteil lässt nacherleben, zeigt Vielfalt und Freude des Festes. Dennoch ist das Buch weder Erinnerungsalbum noch illusionistisch schöne Zierde. Statt dessen schlägt es für alle Frauen, die ihr Selbst besser verstehen, weiter herausbilden und sich auch in der Erfahrung anderer erkennen möchten, eine Brücke von Vorgestern und Gestern zum Heute und Morgen. Die Art, wie Frauen hier unterwegs waren in unsere Geschichte, macht Mut, mehrt Wissen und weckt Phantasie für neue Ziele.”

(Andrea Schiffner)