Projekt Beschreibung

Weibliche Ursprünge

Virginia, Herbst 2020

Mit Die Sprache unsrer Ursprungs-Mutter MA legt die Historikerin Annine van der Meer ein Grundlagenwerk vor, das auf den Forschungen der Archäologin Marija Gimbutas aufbaut und in das sie die weltweite Weiterentwicklung der Interpretationen ihrer Forschungsergebnisse einbezieht. Dabei lässt die Autorin keinen Zweifel an ihrer eigenen Sicht. Das Werk beinhaltet eine umfassende Aufstellung aller bekannten Funde von weiblichen Skulpturen und (Fels-)Zeichnungen weltweit mit detaillierter Beschreibung, zeitlicher und symbolaussagekräftiger Einordnung, Herkunft und jetzigem Aufbewahrungsort. Fast alle sind fotografisch dokumentiert. Sie sieht die Artefakte als Ausdruck einer Religiosität, die weibliche Schöpfungskraft als Ursprung des Seins versteht. Sie belegt ihre Interpretation kenntnisreich und grenzt sie damit gegenüber Veröffentlichungen anderer wissenschaftlicher Deutungen ab.

Mit dieser unglaublichen Fülle kann Annine van der Meer belegen, dass die Menschheit von ihrem Ursprung bis zur Durchsetzung des Patriarchats ihre religiöse Überzeugung universal in weiblicher Symbolik darstellte. Sie spricht durchweg von »Ladys« und verwehrt sich gegen die teilweise herablassenden Beschreibungen, die mit »Puppen« die Nutzung als Kinderspielzeug oder mit »Venus« als Sexobjekt nahelegen. Auch, wenn eine große Zahl der Ladys nackt und ihre Körperlichkeit realistisch ausgearbeitet ist, wertet sie dies ebenso als Ausdruck der religiösen Weltsicht wie die abstrakt oder kaum mit Geschlechtsmerkmalen versehenen Ladys. Während die Funde üblicherweise, insbesondere die mit ausladenden weiblichen Formen gestalteten, als Zeugnisse von Fruchtbarkeitskulten gedeutet werden, sieht die Autorin sie als Darstellung eines umfassenden kosmischen Wertesystems an. Fruchtbarkeit ist dabei nur ein Merkmal, eingebettet in die Weltsicht als ein von der Urmutter geborener Kosmos, der Leben und Tod als Ganzes auffasst.

Körperhaltungen, Materialien, Schmuck, teilweise Kleidung und weitere Erscheinungsformen der Ladys – übrigens unter Einbezug von mitdargestellten Pflanzen und Tieren sowie der Beschreibung von Bauwerken und Wohnräumen – sind nun erkennbar als Sprache, mit der die frühe Menschheit ihr Dasein und die Welt als Schöpfung aus weiblich-göttlicher Kraft ausdrückte.

Mit der zeitlichen Einordnung der Skulpturen in die jeweilige Menschheitsepoche zeigt Annine van der Meer die schrittweise Entwicklung der religiösen Vorstellung von der allumfassenden Urmutter der Altsteinzeit bis hin zu den ausdifferenzierten Göttinnen der Antike, ja sogar bis in die Symbolsprache der frühen christlichen Figuren. Und anhand der Gegenüberstellung ist deutlich zu erkennen, wie das selbstbewusste Frauenbild der matriarchalen Gesellschaft nach und nach der untergeordneten Stellung im Patriarchat weicht.

Annine van der Meer hat ein Standardwerk geschaffen, das eine großartige Fülle Material für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Archäologie, Religionsgeschichte, Kunstgeschichte bietet sowie mit der Entwicklung von matriarchalen, frauenzentrierten Gesellschaften zum Patriarchat bietet. Aber auch für die interessierte Laiin, den interessierten Laien ist es in seiner verständlichen Sprache und guten Aufteilung als Nachschlagewerk zu nutzen. Eine ausführliche Zusammenfassung am Ende eines jeden Kapitels und der Anhang mit Quellenangaben, Registern usw. sind dabei hilfreich. Für diejenigen, die sich für Marija Gimbutas Sprache der Göttin und Die Zivilisation der Göttin begeistern, ist dieses schwergewichtige Buch die folgerichtige Lektüre, wobei der Preis für Umfang und Qualität ausgesprochen günstig ist.

(Friederike Bleul-Neubert)