Projekt Beschreibung

Mutterland … nach dem Holocaust

Virginia, März 2003

“Wenn wir Mutter werden, verändert sich unser Blick auf unsere Mutter. Wir sehen sie als Tochter, die zur Mutter wurde, sehen ihre Mutter … Wir möchten erinnern, erkennen, verstehen.

‚Die meisten Mütter und Töchter, so scheint mir, beobachten einander in einem Spiegel und reflektieren sich gegenseitig in verschiedenen Phasen ihrer beider Leben. Sie sind aneinander durch Blut, Gefühl und jenen Spiegel gebunden, der die Mutter an das erinnert, was sie einmal war, und der Tochter zeigt, was sie selbst werden wird. Die Mutter durchlebt noch einmal ihre Kindheit durch ihre Tochter; die Tochter sucht sich durch die Erfahrung der Mutter ihren Platz in einem größeren Zusammenhang’, schreibt Fern Schumer Chapman.

Doch was, wenn es keine Erinnerungen, keinen Spiegel gibt, kein Erkennen möglich ist? Wenn eine schon als kleines Kind spürte, ‚dass die Vergangenheit genauso verbotenes Gelände war wie eine verkehrsreiche Kreuzung’, sich ein ganzes Leben lang nach der Mutter sehnt, die unerklärbar unerreichbar bleibt?

Wenn die Mutter schweigt, weil sie ‚mit zwölf Jahren sich selbst verlor, alles verlor bis auf ihr Leben: ihr Heim, ihre Familie, ihre Sprache, ihre Loyalitäten, ihre Identität.’

Wie Fern Schumer Chapmans Mutter, die 1938 mit zwölf Jahren von Deutschland nach Amerika eingeschifft wurde, um dem Holocaust zu entkommen. Die ihre Eltern nie wiedersah. Die alles verlor bis hin zu dem, was ihre Tochter noch als Mutter vermisst: ‚Sie ging, bevor die Kultur sie geformt hatte; und sie entschied sich, das Wenige, was sie wusste, zu vergessen … So erinnerte sie sich an kein einziges Kinderlied, und sie hatte auch die Lieder ihrer amerikanischen Kindheit nie gelernt. Also gab es auch keine Kinderlieder, die ich singen konnte, keine Gerichte, die ich kochen konnte, keine Rituale, die ich meinen Kindern vererben konnte.”

Einzig ein paar Fotos gibt es, Bilder einer Großmutter. ‚Ich fantasierte über unser gemeinsames Leben – sicher hätte sie mir vorgelesen, als ich jünger war, ich hätte auf ihrem Schoß gesessen und ihren ganz eigenen Geruch gerochen, sie hätte mir ein deutsches Volkslied vorgesungen und meine Hände im Rhythmus ihres Liedes zusammengeklatscht. Als ich älter war, stellte ich mir vor, wie wir uns bei einer Tasse Kaffee ruhig unterhalten hätten. Sie hätte mir dann die Herkunftsgeschichte der Tassen erzählt, die wir gerade benutzten. Und gemeinsam hätten wir über Dinge gelacht, die schon vor fünfzig Jahren passiert waren”.

Marginalien? Natürlich.

Doch Gefühle für Familie, Zugehörigkeit, Kontinuität, Identität konstruieren sich aus ebensolchen Marginalien.

Diese Mutter konnte nicht umziehen, kein Bild umhängen, kein Möbelstück umstellen, vertrug keine Abwesenheit vom Haus, schuf sich ‚eine ewige Gegenwart, alles andere war zu beängstigend. Wenn andere bei einer Rückkehr sagten: “Das hat mir gut gefallen”, ließ sie gewöhnlich verlauten: “Ein Glück, dass das vorbei ist.”

Sie verhielt sich wie eine Amputierte, die noch immer ihre Zehen fühlt. Doch auch wenn sie sich selbst zu jemand anderem machte, verrieten sie Kleinigkeiten. So erinnere ich mich noch gut, wie sie sich über ihr Scheckbuch beugte und leise in einer fremden Sprache vor sich hin rechnete – auf Deutsch: “Sechs plus acht ist vierzehn”… Obgleich ihr Verhalten vermuten ließ, sie hätte sich von ihrer Kindheit getrennt, pochten die Menschen ihrer Vergangenheit in ihr wie ein zweiter Puls.’

65 Jahre muss die Mutter werden, bis sie zu sprechen beginnt. Mit der Tochter aufbricht zur Reise in die Vergangenheit, in ihr Mutterland, nach Deutschland. Von Chicago nach Stockstadt am Rhein. Da ist die Tochter schwanger und hofft nach zwei Söhnen auf eine Tochter.

Angekommen in Deutschland, lernt sie, die Amerikanerin, ihre Mutter kennen als eine, die Deutsch spricht, einen Heimatort hat, ein Geburtshaus, eine Familiengeschichte, eine Kindheit, Klassenkameraden, einen Spitznamen und eine treue Freundin, Mina. Hier entdeckt sich Freundschaft, entdeckt sich die Mutter: Welch ein Bild, wenn die beiden alten Frauen vorm Puppengeschirr sitzen, von Mina sorgsam wie einen Schatz durch die Jahrzehnte gerettet. Wenn kleine Geschirrteile für ein Stück weiblicher Geschichte stehen: ‚’”Ich hoffe, du bekommst eine Tochter”, sagt Mina, während sie meine Finger um die Tasse legt, “und dass du ihr das Teeservice vermachen wirst. Sag ihr auch ganz sicher, dass das Teeservice ein Erbstück ist!”’

Und endlich kann die Mutter weinen. Weinen um das Mädchen, das sie war. Das die Trennung von den Eltern kaum verkraften konnte, denen sie nie wirklich verzeihen konnte. Und die Tochter kann die Mutter trösten, sie bemuttern, sie erkennen: ‚Ihre Gabe zu verstehen ist in dem gebrochenen Herzen einer Zwölfjährigen stehen geblieben. Sie weiß nur, dass ihre Mutter und ihr Heimatland sie verlassen haben und sie wegstießen, dem kann sie nie entkommen … Sie verlor ihre Kindheit an den Krieg, und ich verlor, auf gewisse Weise, meine Kindheit an sie.’

Später, beim Abschiednehmen von Deutschland, kann ihre Mutter mit einem alten Klassenkameraden ‚albern wie die Kinder lachen.’ Nie hat sie ihre Mutter so lachen gehört, ‚ein unkontrolliertes, hohes Lachen, das aus dem Bauch heraus, tief von innen kommt …’

Eigentlich geht es in diesem Buch um einen Mutter-Tochter-Konflikt, um die Auslöschung einer jüdischen Familie, um das Schicksal von Juden in Deutschland, um Kontinuität in Diskriminierung, um Geschichtsverdrängung, um Kriegsfolgen in Köpfen und Herzen. Mit ‚Die Jüdin Edith Westerfeld besucht Stockstadt’ notiert die örtliche Presse ihren Besuch und schreibt weiter, sie habe Deutschland 1938 ‚verlassen’. Manche(r) will sie nicht erkennen, der verwahrloste jüdische Teil des Friedhofs ist kaum begehbar, ein pflichtbewusst organisiertes Klassentreffen verläuft in peinlicher Schieflage …

Wie kann ein solches Buch seine Leserinnen heiter und gelöst entlassen, wie es hier geschieht?

Vielleicht ist es die ungeheure innere Klärung, Versöhnung, Erlösung und Befreiung, die diese Mutter erlebt. Denn über Trauer und Schmerz stülpen sich unerwartete Einsichten.

Auch diese: ‚”Weißt du”, sagt sie, “die ersten Jahre damals in Amerika waren nicht einfach, aber auf dieser Reise ist mir klar geworden, wie mein Leben in Deutschland wohl ausgesehen hätte … Kaum einer meiner Klassenkameraden ist je gereist oder hat Stockstadt überhaupt je verlassen. Und das wichtigste gesellschaftliche Ereignis ist das Klassentreffen. Die meisten der Frauen sind weder beruflich ausgebildet noch arbeiten sie. Ich glaube, ich habe hier das Leben gesehen, das ich selbst nie hatte. Ich habe gesehen, was aus mir geworden wäre.

Ich habe einen schrecklichen Preis bezahlt … für ein besseres Leben.”’

In dieses Klima des Versöhntseins wird Fern Schumer Chapmans Tochter hineingeboren. Tochter einer Mutter, deren Fragen Antworten fanden, Enkelin einer Großmutter, die nun erst Mutter sein kann: ‚Meine ganze Kindheit über hat sie mit einem so belastenden und ablenkenden Schmerz gekämpft, dass die schönsten Momente ihres Lebens als Mutter verdunkelt waren.

Meine Tochter hat meine Mutter erreicht, wie ich es selbst nie geschafft habe.’”

(Heidrun Küster)