Projekt Beschreibung
Wo die Frauen frei sind, sind alle Menschen frei”
Virginia, März 2017
Seit der Öffnung Chinas in den 1980er Jahren gab es auch immer wie der Veröffentlichungen zu den frauenrechtlich organisierten Mosuo. Die kleine Ethnie von etwa 30.000 Menschen ist am Lugu-See in der Provinz Yunnan in einer Höhe von ca. 2500 m zu Hause. Heide Göttner-Abendroth war die Erste, die 1998 eine ausführliche Studie über die Mosuo verfasste. In der Folge erschienen Mainstream-Beschreibungen von ForscherInnen, JournalistInnen und Reisenden, die in einer eindeutig sexistischen Reportage im Playboy gipfelte: Mosuo-Frauen wurden als leichte Beute für sexhungrige – vor allem chinesische – Touristen präsentiert.
2016 greifen gleich zwei ernstzunehmende Bücher aus dem Christel Göttert Verlag das immer wieder spannende und inspirierende Thema auf. Aus einer wissenschaftlichen Studienarbeit ist Fricka Langhammers Familie als Beginn hervorgegangen, Dagmar Margotsdotters Am Herdfeuer resultiert aus Tagebuchaufzeichnungen während der Dreharbeiten für das Filmprojekt Wo die freien Frauen wohnen (Uschi Madeisky, Daniela Parr und Dagmar Margotsdotter-Fricke) im Herbst 2012.
Beachtenswert und angenehm ist, dass sich die beiden Publikationen konkurrenzlos ergänzen. Zielgerichtet beschreibt und analysiert Fricka Langhammer zunächst die Lebensbedingungen der Mosuo: Frauen bestimmen über Wirtschaft und soziales Miteinander, sie kümmern sich um die Belange der Gemeinschaft, Verwandtschaften werden mutterrechtlich definiert. Es gibt keine Ehen. “Besuchsbeziehungen” finden nächtens in “Blumenzimmern” der Frauen statt, ansonsten leben und arbeiten Männer bei ihren Müttern und Schwestern.
Fricka Langhammer vergleicht abschließend die “Besuchsbeziehungen” der Mosuo mit unserer Ehe/Kleinfamilie. Das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen: Der Vater eines Kindes ist normalerweise unbekannt, der Bruder der Frau übernimmt die “soziale Vaterschaft”. Die durchschnittlich zwei Kinder einer Frau werden von der Clangemeinschaft (10-100 Mitglieder) abwechselnd aufgezogen. Die Liebe zwischen den Geschlechtern beruht auf Gefühlen und reduziertem Besitzdenken, Materielles ist Nebensache, zerstörerische Eifersucht ist beinah unbekannt. Das Wichtigste für die Mosuo ist Harmonie. Konflikte werden nicht mit Gewalt gelöst. Schuld- und Rachegefühl sind weitgehend unbekannt, es ist eine Schande zu streiten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Mosuo kein Profitdenken, Machtstreben, keine Konkurrenz und kriegerischen Auseinandersetzungen kennen (ähnlich auch in anderen asiatischen matriarchalen Gesellschaften, wie den Khasi in Nordindien oder den Minangkabau auf Sumatra in Indonesien).
Details aus dem Alltagsleben der Mosuo erfahren wir auch von Dagmar Margotsdotter:
Wir werden mitgenommen ins Ortskrankenhaus, zum abendlichen Alphabetisierungskurs, zur Kartoffelernte oder zu einer Mutter, die nach der Geburt in den ersten 40 Tagen ausschließlich mit ihrem Neugeborenen zusammen ist. Ein zig bei den Beerdigungen sind Männer gefragt, für die Zeremonien und auch beim Kochen. Beim gemeinsamen Waschtag und auch bei der Dorfversammlung wird klar, dass sich Frauen/FreundInnen als “Schwestern” verstehen – und dass ihr Leben bisher ohne Computer und mit nur wenigen Smartphones auskommt.
Durch die Intensität des Erfahrenen und Erlebten vor Ort ist es nicht verwunderlich, dass die Autorinnen die gemachten Erlebnisse und Erkenntnisse nicht sofort zur Seite legen können. So wecken die spannenden und andersartigen Lektüren aber nicht nur bei den Autorinnen Gedanken zur Übertragbarkeit der mutterrechtlichen Strukturen auf unsere westlichen patriarchalen Gesellschaften. Gerade in von Terror bedrohten und Angst einflößenden Zeiten erscheinen friedliche Daseinsformen durchaus als wünschens- und nachahmenswert. Dabei bleibt aber zu befürchten, dass die stakkatoartigen Schreckensmeldungen, die mittlerweile unsere Nachrichten und unseren Alltag durchziehen, keine Zeit zulassen für weitere Überlegungen zu menschlichen, lebenswerten Alternativen, wie sie die Mosuo seit Jahrtausenden leben. Gerade auch für die arabisch-islamischen Länder könnte das Leitmotiv der Matriarchate “Wo die Frauen frei sind, sind alle Menschen frei” ein aussichtreicher Wegweiser sein.
So bleibt zu wünschen, dass sich die Lebensweise der Mosuo auch weiterhin gegen das dominante chinesische Patriarchat abgrenzen kann. Die Antwort wird die Zukunft zeigen, doch die “touristischen Fühler” sind schon längst bis zum Lugu-See vorgedrungen.
(Anna Gerstlacher)