Projekt Beschreibung

Eine unfassbare Sehnsucht

weltexpresso.de, 17.12.21

Wenn ich von einem Buch noch gar nichts weiß, schaue ich mir das Titelbild gründlicher an: Zusammen mit dem Titel von der unfaßbaren Sehnsucht sieht man Bäume, einfach Bäume, aber nicht im Wald, sondern auf Rasen, also einen Park, gezähmte Natur, aber doch vom Wind (!) schief und krumm gewachsen, also echt. Und unten sieht man auch den Weg, der ins Freie führt und ob das Metall rechts mit Schloß eine Tür symbolisiert, die man mit dem passenden Schlüssel öffnen kann und sich sowohl verbergen, wie auch ins Freie treten kann, das wollen wir jetzt nicht vertiefen, denn die Autorin Doris Wind sagt uns eindeutig, was Sache ist.

Zuerst fällt die Form auf, in der ihr Motto: „Opfer zu bleiben ist keine Perspektive für mich“ uns geradezu anspringt. Es ist sowohl graphisch wie auch beim Lesen wirklich Poesie am Werk und wie dankbar bin ich immer wieder, so luftig und leicht eines Besseren beschieden zu werden, von einer Autorin, die allen Grund hat, rabenschwarz durch die Nacht zu segeln. Stattdessen äußert sie Dank „an alle, ohne sie hätte ich nicht überlebt.“ … Doris Wind fängt mit dem DANK an, an die Freundinnen und Liebsten, an die, die ihr Zuwendung und Geld schenkten, an die Therapeutinnen, an den einen männlichen Ausbilder, „mit dem ich es, ohne daß er es wußte, zum ersten Mal wagte, mit einem Mann allein in einem Raum zu bleiben“ und den einzeln Angesprochenen, auf die wir nicht eingehen können, weil es so viele sind.

Wenn ich eine autobiographische Erzählung wagen würde, wem würde ich danken, habe ich bei mir gedacht und sofort gewußt, eigentlich nur einem: meinem Vater, was total ungerecht gegenüber meiner Mutter ist, die – das weiß ich erst heute – durch ihr Dasein, ihr unbewußtes Vorbild einer selbständigen Frau, die ihren kulturellen Interessen lebte, mich sicher genauso prägte. Doris Wind jedoch hatte keinen Vater an ihrer Seite, der war früh gestorben, er erscheint ihr nur im Traum, wo er ihr immerhin hilft, ihre Mutter kann man nur als widerliche Peinigerin bezeichnen und ihren Großvater als Verbrecher. Denn nachdem man erst einmal sanft in Panikattacken eingewickelt wird, und über die beiden Wirklichkeiten, deren eine die Angstträume sind und die Glasscheibe, die sie fragen läßt: „bin ich hinter der Glasscheibe oder die Welt“.

Wir müssen uns noch gedulden, erst spricht sie von sich, die Verfasserin, von ihrem Leben, ihren Vorlieben, von allem, woran sie gerne denkt nach Jahrzehnten, aber dann konstatiert:

„Denn ich bin auch die, die über die Straße geht und plötzlich weder vor noch zurück weiß… das Kind in mir will immer noch gerettet werden es gab Zeiten, in denen ich nicht für mich sorgen konnte nicht das Haus verlassen konnte nicht sprechen konnte und nicht fühlen in denen ich tagelang Angst vor Wegen hatte.“

Aber dann ein vierfaches : „und ich gebe nicht auf“ und am liebsten würde ich noch die BIOGRAFISCHE KURZFASSUNG auf Seite 22 zitieren, in der alles gesagt ist, zu ihrer Entwicklung, nur nicht, worin das Problem besteht, das als Lebens- und Überlebensproblem nicht zu kurz gegriffen ist. Das ist, raffiniert ist der falsche Begriff, aber doch interessant gemacht, daß man immer noch nicht weiß, um was es geht, nur daß es um etwas sehr Gravierendes gehen muß, das die Autorin fragen läßt: „Wie kann eine Geschichte erzählt werden?“ und sich über Schreibstrategien ausläßt. Werde ich ungeduldig? Nein, eigentlich nicht, ich lächele eher darüber, daß nach formalen und erinnerungstechnischen Fragen dann wieder Existentielles kommt. Ja, es ist eindeutig die Form der hingehauchten Worte, die einen dranbleiben läßt:

„Es gab keine Sicherheit, nirgends und niemals. Sommers nicht, und auch nicht im Winter. Im Haus ebenso wenig wie draußen. Nachts nicht, tagsüber auch nicht. Auf den Wegen vom Kindergarten nach Hause nicht. Auf den Wegen mit dem Großvater. Vor allem nicht zur stillen Zeit in der Mittagsruhe, wenn alle Geschäfte geschlossen sind, die Häuser ringsum still, schweigend.“

Später beschreibt sie ausführlicher ihre Herkunft, ihr Aufwachsen in einem Reihenhaus ‚klassischer Kleinfamilien‘ in der Duisburger Gegend und ihr Fremdsein in der eigenen Familie und unvermittelt, erst auf Seite 42, steht dann: „Ich bin achtundfünfzig Jahre alt. Mein Großvater hat mir vom Kleinkindalter an über Jahre brutal sexualisierte Gewalt angetan, mich vergewaltigt und mißhandelt. Wann das genau aufhörte, weiß ich nicht; er starb, als ich elf war. Er tat es nachts und tagsüber im Haus, draußen auf leeren Sport- und Spielplätzen, hinter Büschen, auf dem Weg nach Hause, wenn er mich vom Kindergarten abgeholt hatte.“

Da muß man Schlucken und noch mal Schlucken und kann es nicht fassen: „Meine Mutter hat mich mißhandelt und geschlagen, bis ich mit siebzehn Jahren von zu Hause weggelaufen bin.“ Und nie mehr zurückkehrte. Wer von den Älteren müßte dabei nicht an Ulrike Meinhofs Fernsehbeitrag MIT SIEBZEHN HAT MAN NOCH TRÄUME…denken, der diese gefühlvolle Schnulze mit der Wirklichkeit von Siebzehnjährigen aus proletarischen Verhältnissen konfrontiert. Aber wieviel einfacher ist es, sich da herauszuentwickeln, als aus einem familiären Mißbrauch, einem echten Mißbrauchskomplott, denn das kann keiner erzählen, daß die Mutter und auch die Geschwister nichts mitbekommen haben – oder sogar einst selber Mißbrauchsopfer waren und die bekannte Identifikation mit dem Aggressor wählten.

Das Buch nun handelt davon, wie der Autorin erst in ihren Zwanzigern bewußt wird, daß sie überhaupt keine Erinnerung an ihre Kindheit hat und mit welchen schmerzlichen Prozessen sie sich nach und nach der grauenvollen Vorgänge bewußt wird, bewußt werden muß, die ihre Kindheit zu einem solchen Martyrium machten, daß sie vergessen mußte, um überhaupt überleben zu können. Auf ihr eigentliches Leben, ihre Lieben, ihre ganz unterschiedlichen Arbeitsbereiche, die sie quer durch Deutschland führten, ihre fast ununterbrochenen Therapien und Therapeuten – daß sie dem deutschen Gesundheitssystem dankt, fand ich korrekt, denn ihre häufigen Aufenthalte in Psychiatrien und ähnliche Häuser kosten sehr viel Geld – will ich jetzt nicht eingehen. Das liest sich spannend und anteilnehmend auch. Nie wird einem ihre Geschichte larmoyant, nie geriert sie sich als Opfer. Sie war einfach eines und findet mühselig den Weg, damit umzugehen und gerade zum Trotz eben doch selbst ein gutes Leben zu führen.

Daß jemand über Jahre sich nicht aus der Wohnung traut, weil er den Schritt aus der Tür nicht wagt und darauf angewiesen ist, daß ein Therapeut in die eigene Wohnung kommt, von so etwas hatte ich noch nie gehört. Lange fand Doris Wind keine Psychotherapeutin, weil solche Hausbesuche unüblich sind . Aber, so dachte ich weiter, typisch, wir sind immer noch eine Gesellschaft, in der das Körperliche wichtiger, also ernster genommen wird, als das Psychisch-Mentale, denn es ist selbstverständlich daß es bei körperlichen Gebrechen Hausbesuche von Physiotherapeuten gibt. Das nur nebenbei.

Daß man sich mit der eigenen Hand am eigenen Schopf aus dem Sumpf, den andere angerichtet hatten, herausholen kann, ist ein Lebensergebnis, das anderen Mut machen soll, auch wenn es Jahrzehnte dauerte. … Wahrscheinlich ist es die aktive Gegenwehr, die einem hilft, den Opferstatus zu überwinden …

(Claudia Schulmerich)