Projekt Beschreibung
Selbstbestimmt und solidarisch
wolfsmutter.com, 02.03.06
Wie schaut es mit den Rechten alter Menschen – besonders Frauen – aus? “In Würde alt werden”, ist das in unserer Gesellschaft lebbar? Eine Arbeitsgruppe aus Frauen hat sich mit diesem Thema beschäftigt.
Mehrere Frauen, die einer christlichen Initiative angehörten, haben eine Arbeitsgruppe gegründet, um die Erfahrungen mit unterschiedlichen Alterssituationen in Gesellschaft und Familie zu reflektieren und eine Erneuerung der Beziehungen zwischen den Menschen anzustreben. Sie stellten in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema grundlegende Fragen, unter anderem: Wie müssen Menschenrechte für Alte lauten? Wie konkret müssen sie sein, um im Alltag relevant zu werden? “In Würde alt werden – ein Menschenrecht” hieß bald das Thema der Arbeitsgruppe.
Die Frauen suchten eine eigene Alterskultur; die Erneuerung der Beziehungen zwischen den Menschen rückte ins Zentrum. Die Gruppe versuchte ein menschenwürdiges Leben im Alter entlang der eigenen Möglichkeiten zu verwirklichen beziehungsweise zu konzipieren. “Selbst sprechen, dadurch Wissen zu erlangen und zu neuen Vorstellungen vom Alter zu kommen, die über die praktische Regelung der notwendigen Arbeit hinauswiesen, war für Frauen nicht vorgesehen – für selbstbestimmte alte Frauen schon gar nicht.”
Alte Frauen und selbstbestimmt? Das ist uns fremd. Vielleicht, solange die Frau geistig und körperlich fit und auf der Höhe ist, niemandem zur Last fällt und zehn Jahre jünger aussieht – aber: wehe, sie hat Vermögen und Angehörige, die finden, sie wüßten besser, was damit anzufangen sei als die alte Mutter, Großmutter, Tante. Und wenn die Frau körperlich und/oder geistig von der Versorgung durch andere abhängig ist, dann scheint der Begriff “Selbstbestimmung” nicht angebracht zu sein. Wir kennen nur zwei Klischeebilder: die alte Frau, die von ihren Angehörigen ins Altersheim abgeschoben und nur zum Muttertag rausgeholt wird, einerseits – die bösartige, manipulierende Alte, die Tochter oder Schwiegertochter ausnutzt und verbal mißhandelt, andererseits. Beide Klischees haben mit Selbstbestimmung nichts zu tun. Doch Selbstbestimmung bewegt sich in einem Spannungsfeld von Dominanz und Hinnahme, meinen die Autorinnen. Wir erleben als Beispiel den langsamen Sterbeprozeß einer alten Frau – schonungslos und bedrückend, realistisch und zum Nachdenken anregend. Auch abhängig von PflegerInnen ist es möglich, zu sagen: Das will ich, das will ich nicht. Widerstehen ist auch Sterbenden möglich, lehrt uns dieses Beispiel, und auch, daß manchmal Ertragen sein muß.
Was mir gefällt: Es ist von “Alten” und “alten Frauen” die Rede, nicht beschönigend oder abwehrend von “Seniorinnen” oder “älteren Frauen”. Und es geht größtenteils wirklich um das GreisInnenalter, nicht um die Vermengung von Post-Menopause und hohem Alter, die derzeit häufig stattfindet.
Themen sind:
- Alter und Sprechen: über das Alter wird nicht gesprochen, alte Menschen schweigen oft (und wenn sie reden, hört ihnen niemand zu). Persönliche Beobachtung einer Freundin: Benennt eine Frau Mitte, Ende Fünfzig sich als “alt”, wird abgewehrt und sie fast abgekanzelt.
- Sich erinnern als Dialog mit sich selbst, als Eigenschaft des Sprechens, als Lust.
- Altern neu denken: Altersgrenzen im Beruf, biologischer und persönlicher Altersprozeß; Frauen in der dritten Lebensphase starten oft neu durch, gerade dann, wenn sie als “alt” gelten.
- Alter im 21. Jahrhundert: gesellschaftliche Veränderungen, Idealisierung des Jungseins, die Folgen der Langlebigkeit, Hochaltrigkeit, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, Altersbedürfnisse.
- Vergänglichkeit und Nachhaltigkeit: “Nachhaltigkeit und das Alter als Qualität der Ökonomie.”
- “Immanente Jenseitigkeit”, die dem Alter persönlichen Sinn verleiht.
- Altern in Beziehungen: Freundschaft und Verwandtschaft, neue Beziehungsformen. “Das menschliche Leben ist durch die Generationenbeziehung organisiert.”
- Die Nicht-Linearität und die Linearität des Lebens: “jung” wird als “lebendig” empfunden und so verwendet.
- Verlängerte Lebenszeit
- Mystik des Sterbens
Persönliche Berichte und Aussagen verleihen dem Thema Dichte und Nähe, beinhalten aber für meinen Geschmack zu oft die Aussage von “dir die Füße waschen”. Die Frauen stellten auch fest, daß es hauptsächlich Frauen sind, die das Altsein wahrnehmen und begleiten.
Dieses Büchlein ist nicht die leichteste Lektüre, nichts, das frau flott an einem Abend durchliest, obwohl das von der Seitenzahl her möglich wäre. Und obwohl es bequemes Handtaschenformat hat, ist es wohl auch nichts, das sich nebenbei in der Straßenbahn, auf dem Weg in die Arbeit, liest. Stattdessen beschäftigt es uns eine Weile, mit Sätzen wie: “Die Idealisierung des Jungseins führt dazu, Jungen verfrüht Macht zu geben, sie zu Managern zu berufen, sie die ökonomischen Entscheidungen treffen zu lassen. … Jungen Menschen fehlen in der Regel die Erfahrungen der Niederlage, des Scheiterns und des Altwerdens, die die Tiefenschärfe von Entscheidungen ausmachen.”
“Es geht darum, die eigene Würde und die der anderen zu wahren. Eins geht nicht ohne das andere. Würde ist ein Beziehungsgeschehen.”
Das Altern von Frauen wird zumeist nur unter dem Aspekt des “Nicht mehr schön, jung, begehrenswert genug” oder des körperlichen oder geistigen “Anti-Aging” behandelt, da ist es dringend erforderlich, das einmal anders zu sehen: ehrlich, nachdenklich, brutal. Es gäbe mehr über Frauen und das Alter – das Alter und Frauen – das Altern von Frauen – alternde Frauen zu sagen, positives wie negatives. Auch ohne eine “Christliche Initiative” hinzuzuziehen. Das stört etwas (mich zumindest). Andererseits ist alles, was hilft, das Thema zu enttabuisieren, zu begrüßen. Wir alle werden älter, und wenn wir Glück haben, werden wir alt. Das ist so, ob es uns gefällt oder nicht. Natürlich werden wir nie hilflos, hinfällig und dement; werden nie “Essen auf Rädern” und Pflegepersonal brauchen; und in ein Altersheim kommen wir schon gar nicht. Nie. Das mag sein. Arbeiten sollten wir daran. Uns drauf verlassen nicht. Und darüber nachdenken, was wir unter “Alter”, “altwerden”, “alte Frauen” verstehen, sollten wir allemal.
Eins habe ich beim Lesen erkannt: Solange man uns verwehrt, so vehement, stark, direkt, unduldsam – so verbindlich, freundlich, konfus, verhuscht zu sein, wie wir halt sind, solange können wir uns nicht wirklich mit dem Alter(n) auseinandersetzen – und schon gar nicht mit dem Sterben.
Wirklich neue Perspektiven werden hier nicht geboten, das würde aber auch den Rahmen sprengen. Es liegt an uns, darüber nachzudenken. (Irene Fleiss)