Projekt Beschreibung

Käthe, meine Mutter

wolfsmutter.com vom 25.4.2006

“Das Private ist politisch” – Daß dieser Satz stimmt, führt uns Marianne Krüll mit ihrem Buch über das Leben ihrer Mutter vor Augen. Oder, anders ausgedrückt: jedes Leben spiegelt die Strukturen der Gesellschaft wider, in der es sich abspielt.

Beim Lesen dieses Berichts über das Leben von Käthe und ihrer Mutter Anna und über Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter von Tochter Marianne, der Autorin, würden selbst Außerirdische starke androzentrische, frauen- und mutterfeindliche Strukturen erkennen. Wie sehr doch jede der handelnden Frauen an den Männern in ihrem Leben orientiert ist, wie sehr sie sich um die Männer drehen, auch wenn sie gar nicht mit ihnen verwandt, verheiratet oder “verbandelt” sind, auch und gerade, wenn es sich um starke, dominante Frauen handelt! Wie viel Verständnis mit den Männern überall durchschimmert. Und das, obwohl der Autorin heute diese Strukturen durchaus bewußt sind und das Buch dem Zweck dient, sie sichtbar zu machen und aufzubrechen.

Eine – zeitgeschichtlich interessante – Spurensuche, eine Aufrollung familiärer Verstrickungen und eine Entdeckung von Familienmustern, die auch die jüngsten Nachkomminnen und Nachkommen beeinflussen können. Die Autorin hat sich viel Mühe gemacht, die Spuren ihrer Großeltern zu erforschen und freizulegen. Manches ist mir ein bißchen zu schonungslos, manches ist mir zu sehr hineininterpretiert. Kann eine Frau wirklich immer genau auseinanderhalten, was sie von ihrer Mutter weiß, was sie glaubt zu wissen und was sie bloß vermutet und rückschließt?

Die Form, das Buch als Gespräch mit der Mutter, oder genauer, als Monolog der Tochter an die Mutter, zu gestalten, irritiert mich etwas. Wer erzählt schon im normalen Leben anderen Menschen jene Dinge, die sie selbst erlebt haben? Vielleicht liegt es auch an dieser Gestaltung, daß, meinem Gefühl nach, trotz der beabsichtigten Auseinandersetzung mit der patriarchalen Gesellschaft die Aussprache mit der Mutter sehr lange im Persönlichen, im Individuellen bleibt. Natürlich sind die Leben von Käthe und ihrer Mutter Anna Beispiele dafür, was an der patriarchalen Mutterrolle menschenverachtend und menschenverbiegend ist. Das ist für jede, die bereit ist, hinzuschauen, leicht zu erkennen. Doch der Bogen zum überpersönlichen Mutter-Tochter-Schicksal wird spät geschlagen. Nicht zu spät, zum Glück.

Es gelingt Marianne Krüll, die Ambivalenz der patriarchalen Mutter-Tochter-Beziehung deutlich zu machen.

Sie möchte aber mehr, sie möchte Mütter und Töchter versöhnen und so Frauen stärken. Der Klappentext verspricht es: das Buch “zeigt einen Weg auf, wie der in patriarchalen Gesellschaften allgegenwärtige Mutter-Tochter-Konflikt durch das einfühlende Verstehen der gemeinsamen Geschichte umgewandelt werden kann in Frauen bestärkende Kraft”.

Das erscheint mir etwas vereinfachend (Reicht “Verstehen” wirklich immer aus, zu versöhnen?) – und es blendet jene Frauen aus, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Möglichkeit haben, ihre gemeinsame Geschichte mit der Mutter “einfühlend verstehen” und “umwandeln” zu können. Für all jene aber – und das sind sicher viele -, die an ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter oder auch zu ihrer Tochter leiden und nach Wegen des Ausgleichs suchen, kann diese Auseinandersetzung Beispiel sein. Allerdings, meine ich, sollten wir darauf achten, bei der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht in ihr steckenzubleiben.

Marianne Krüll ist mit ihrem Buch seit Jahren auf Lesereise und gibt Seminare dazu, es spricht also viele Frauen an. Nimmt es uns die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Mutter ab? Stillt es das Bedürfnis, unfaßbare Geschehnisse des 20. Jahrhunderts anhand einer individuellen Biographie faßbar zu machen und zu verstehen? Frauen, die es spannend finden, wie weltgeschichtliche Ereignisse sich in einem ganz normalen Leben widerspiegeln und es verändern/verformen, die aber nie die Erzählungen ihrer Mütter aufgezeichnet haben (wie ich), können stellvertretend eine andere Mutter, ein anderes ganz normales Frauenleben kennenlernen.

Sehr gut beschreibt die Autorin die “Allmachtsphantasie” auch erwachsener Kinder: Die Tochter “weiß” nicht nur am besten, wie ihre Mutter hätte sein sollen, sondern auch, wie sie sein sollte, wie sie den Vater behandeln sollte, “weiß”, daß die Mutter nur durch sie lebt, daß sie den Schlüssel zu Glück und Unglück ihrer Mutter in Händen hält und schließlich sogar durch ihr Verhalten den Tod der Mutter “verursacht”. Fühlen wir uns tatsächlich alle als “Nabel der Welt” unserer Eltern? Die Frage, wieso schon ein kleines Kind sich für das Wohlergehen ihrer Mutter zuständig / verantwortlich fühlt, wird nicht gestellt.

Noch etwas irritiert mich: Braucht frau wirklich einen Gruppentherapeuten, um zu erkennen, daß ihre Mutter ihr Leben lebte und sie ihr eigenes lebt und daß eine Verquickung dieser beiden Leben nur zu Schaden führen kann? Kann eine Frau, der, ihrer Schilderung nach zu schließen, in ihrer Kindheit nichts übles zugestoßen ist, wirklich nur mit fremder Hilfe zu dieser einfachen Erkenntnis kommen? Aber das ist natürlich individuell unterschiedlich.

Wichtig ist, daß Marianne Krüll die weitverbreiteten “Mütter-Schelte” benennt.

Mutter ist an allem schuld, Vater wird von allem freigesprochen. Ein Verhalten, das leider noch immer, am Anfang des 21. Jahrhunderts, durchaus üblich ist und auch von PsychologInnen und TherapeutInnen (nicht nur männlichen, leider auch viel zu vielen weiblichen) betrieben und sogar empfohlen wird. Tatsächlich fällt mir an mehreren Stellen des Buches auf, daß die Väter und Großväter recht großzügig behandelt werden. Zugegeben, sie sind nicht das Thema des Buches, doch gerade dadurch werden sie wieder ge(ver)schont. Ehrlich bekennt die Autorin ihre Fehler in der Auseinandersetzung mit der Mutter, und sie betont, daß die Mutter mit Fehlern zu konfrontieren nicht der letzte Schritt sein kann. Wichtig ist ihr, daß Mutter und Tochter einander in ihrer Art und ihrer Lebenseinstellung ernst nehmen.

Ein wichtiger Satz zum Abschluss: “Die Überwindung patriarchaler Strukturen zu fordern ist leicht, sie in der eigenen Familie wahrzunehmen und neu zu denken ist dagegen sehr schwer, denn hier erscheinen sie uns oft so selbstverständlich, weil sie Teil des eigenen Selbstbildes geworden sind.” Ich würde vorschlagen: Lassen wir uns weder von unserer patriarchalen Familie noch von unserer patriarchalen Umwelt unterkriegen. Für die in vielen Bereichen notwendige Aufarbeitung unserer Familiengeschichte beziehungsweise Mutter/Großmutter-Geschichte bietet Marianne Krüll uns wertvolle Anleitungen und Anregungen.

(Irene Fleiss)