Projekt Beschreibung

Vom Glück, eine Frau zu sein

www.bzw-weiterdenken, 17.11.2019

… Der Blick, mit dem Luisa Muraro hier auf unser Frausein schaut, löst Verblüffung aus. „Wir sind Frauen, das Glück haben nicht alle“, zitiert sie eine arbeitslose Frau, die bei einer Fabrikbesetzung eine Rede hielt. Wir Frauen sind so sehr und schon so lange gewöhnt, dass wir das zweite Geschlecht sind, das zweitrangige, abgeleitete, das benachteiligte, dass wir uns erst einmal die Augen reiben müssen, wenn wir hier lesen, es sei ein Privileg, eine Frau zu sein.

Beim ersten Lesen fiel mir eine Bemerkung aus einer Vortragsreihe über Frauen in Christentum, Judentum und Islam wieder ein, die bei mir irgendwann in den 1990er-Jahren eine ähnliche Verblüffung ausgelöst hatte: Ausgerechnet in ihrem Vortrag über den Islam widersprach die Philosophin Regine Kather der Vorstellung, Frauen seien von der Religion ausgeschlossen worden. Zumindest in der Anfangszeit sei es eher so gewesen, dass Frauen diese Art von Religion nicht nötig gehabt hätten, also beispielsweise die Einübung in Demut, Almosengeben und Vertrauen, da sie all das in ihrem Alltag sowieso lebten. Dies passt zu Muraros Aussage, Frauen seien eben nicht so sehr Ausgeschlossene, sondern Außenstehende, anderswo und anderswie Tätige (S. 19/20). Schon 2002 veröffentlichte die Philosophinnengemeinschaft Diotima ein Buch mit dem Titel „Von der Abwesenheit profitieren“. Auch damals klang das Privileg an, die Machtspiele der Männer nicht nötig zu haben und stattdessen etwas Sinnvolleres tun zu können.

Was Luisa Muraro über das Frausein schreibt, geht auch weit über den Buchtitel „Spät habe ich gelernt, gern Frau zu sein“ der Autobiographie von Marga Bührig hinaus, eine Aussage, die mich damals sehr glücklich gemacht hat. Auf immer wieder neue Weise schreibt Muraro über dieses Glück, dieses Privileg, über die Exzellenz, den Adel, die Stärke. Ich habe mich beim Lesen gefreut, zu denen gehören zu dürfen, die „ein Glück für die Menschheit“ sind. Auch unter schwierigen Umständen verschwinde eine Stärke der Frauen nicht, sondern werde manchmal noch größer: die nicht verleugnete Größe der eigenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht. Eine Frau zu sein sei „ein Privileg wie jenes, das den Menschen in den alten aristokratischen Gesellschaften durch adlige Geburt zuteil wurde: Du bist der Sache vielleicht nicht gewachsen, aber das Privileg kannst du nicht verlieren. Ebenso wenig wie du es dir verdient hast. […] Doch anders als bei den Privilegien aufgrund von Blutsbanden genießt eine Frau das Privileg, von dem hier die Rede ist, vor allem im eigenen Inneren, in der vertrauensvollen Beziehung mit Ihresgleichen oder in Gesellschaft von Männern, die ein Bewusstsein darüber haben, oder auch dann, wenn sie große Schwierigkeiten überwinden muss. Dieses Privileg schlägt sich hingegen nicht in der gesellschaftlichen Rangordnung nieder; in der Gesellschaft ist es nur sporadisch sichtbar“ (S.11).

Allerdings müsse die Frau ihr Privileg annehmen und pflegen, so wie es die Adligen zu manchen Zeiten und in manchen Ländern taten. „Wenn sie das kann, dann macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob sie auf einem Lehrstuhl sitzt oder in der Küche steht, das lehren schon die Märchen“ (S. 13).

Damit wir diese Erkenntnisse Luisa Muraros wirklich bei uns ankommen lassen können, damit wir uns einüben können in diese andere Sichtweise auf unsere Situation als Frauen, antwortet sie an mehreren Stellen des Buches auf die Einwände, die ja fast automatisch kommen, beispielsweise die Frage: Redet sie hier nicht etwas schön, was in Wirklichkeit doch eher unerfreulich ist? Ausführlich geht Muraro also auf die Gegenreden zu ihrer Sichtweise ein, allerdings mit anderen Argumenten als den üblichen. So beginnt schon der zweite Teil der Einleitung mit dem Satz, „Dass es Frauen gibt, ist ein Glück für die Menschheit, aber Frau zu sein ist nicht einfach“ (S. 8). Dabei denkt Muraro jedoch gerade nicht in erster Linie an ungünstige Umstände wie Armut, verhinderte Bildung, fehlende Arbeitsplätze und erlittene Gewalt. Stattdessen behauptet sie, auch unter den besten Bedingungen sei das Frausein „eine schwierige conditio humana“. Denn wir seien in der Realität sehr präsent und sehr nah, „ja sogar tief innen im Menschsein von uns allen“, doch extrem wenig repräsentiert in Worten und symbolischen Figuren. Und sie nennt Beispiele ganz unterschiedlicher Frauen, von Marilyn Monroe und ihren Großmüttern über eine Schulfreundin von ihr, die einen Mann aus der Fiat-Dynastie heiratete, bis zu den afghanischen Frauen, „zuerst unter den Taliban und dann unter der NATO-Besatzung“, deren Leben zweifellos nicht einfach war. „Ob eine arm oder reich, schön oder hässlich, ein kleines Mädchen oder eine alte Frau ist, ob sie gedemütigt oder verehrt wird – es ist nicht einfach“ (S.9). Und ja, es gäbe Frauen, die würden jetzt sagen, Frausein mag ein Glück für die Menschheit sein, „aber für viele von uns ist es ein Unglück“ (S. 10). Und im vorletzten Kapitel schreibt sie nochmals über die „heute“ neu aufgetretenen Schwierigkeiten: „Es gibt viele Gründe zum Verzweifeln“, heißt dessen Überschrift.

Ein zweiter roter Faden, der sich durch das ganze Buch zieht, ist die Frage, was diese Sichtweise für die Politik der Frauen bedeutet. Und da kritisiert Muraro nochmals auf neue Weise die „pseudofeministische“ Auffassung als pauschalisierend und vereinfachend, Frauen seien das Opfer von Ungerechtigkeit und dieser müsse entgegengewirkt werden durch Angleichung ihrer Lebenssituation an die der Männer auf dem Weg über Recht und Gesetz. Es sei die Vorstellung einer weiblichen Exzellenz, die nicht nachweisbar, aber erkennbar sei, die den Frauen Gerechtigkeit verschaffe. Der große Gewinn dieses anderen Ausgangspunkts sei, „dass wir sofort damit beginnen können, uns Gerechtigkeit zu verschaffen, in dem Sinne, wie ich bereits erklärt habe: die Wirklichkeit mit Kriterien zu betrachten, die unabhängig von den herrschenden Werten sind, und entsprechend zu handeln, ohne mit einer bloßen Anti-Haltung Zeit und Energie zu verlieren. Diese Möglichkeit ist zum Greifen nah, wenn wir das Geheimnis der Beziehung in der Hand haben – der Beziehung, die einer Person Wert verleiht für das, was sie ist, samt ihren größten Wünschen und ihren verborgensten Potenzialitäten“ (S. 71).

Im letzten Kapitel erklärt Muraro schließlich, warum und inwiefern die Unabhängigkeit der Frauen von den Männern wichtig ist. Es hat mich überrascht, dass sie hier auch von den Mosuo, einer matrilokal und matrilinear lebenden Volksgruppe im heutigen China erzählt, in der die Frauen mit ihren Kindern in der mütterlichen Großfamilie leben und ihre Liebhaber nur zu Besuch empfangen, die wiederum in ihrer mütterlichen Herkunftsfamilie zu Hause sind.

Natürlich hängt „die einzigartige, unersetzliche Nähe zum Menschengeschlecht“, von der Muraro schreibt, auch mit der biologischen Fähigkeit von Frauen zusammen, Leben weiterzugeben. Doch sie denkt dabei weniger an die einfache Fortpflanzung, „also dass wir alle von einer Frau geboren werden“, sondern „an die wirklich exquisite Art und Weise, wie Frauen, die Mütter werden – abgesehen von unglücklichen Fällen – ihre Geschöpfe austragen und zur Welt bringen: mit Gedanken, Zukunftsplänen, Träumen, und dann mit Küssen, Umarmungen, Kleidchen, Mützchen, zärtlichen Worten, Wiegenliedern … Und noch mehr denke ich an den Rest, ich meine all das, was nicht Fortpflanzung ist. Und das ist so viel!“ (S. 13/14). Und so steht eben nicht das Bild einer Mutter mit neugeborenem Kind am Anfang des Kapitels mit der Überschrift „Das Privileg“, sondern das der kleinen Tochter an der Hand ihrer Mutter. Denn „das Mutter-Tochter-Paar ist nicht nur ein Segment der biologischen Kontinuität, die uns mit den Ursprüngen des menschlichen Lebens verbindet. Da ist noch etwas anderes, die biologische Kontinuität allein genügt nicht. Damit der Faden nicht abreißt, muss von einer Frau an die andere das ursprüngliche Engagement weitergereicht und erneuert werden, das ich im vorigen Kapitel so ausgedrückt habe: sich für die Lebenden einsetzen und den Lohn in der Liebe suchen“ (S.81).

Wenn ich dieses Buch lese, habe ich trotz der anfänglichen Verblüffung das Gefühl, irgendwie schon immer etwas von meinem Privileg geahnt zu haben – oder doch immer mal wieder, wenn es kurz aufblitzte. Beispielsweise war es spürbar in meinem Mitgefühl für den damals 10-jährigen Sohn meiner Freundin, wenn diese und ich mit der kleinen Tochter zusammen fröhlich plaudernd auf die Toilette gingen, während der Junge ganz allein auf die andere Seite gehen musste.

Was Muraro zu tun glaubte, als sie dieses Buch schrieb: Sie zündete ein Licht an. Beim Lesen hatte ich mehrmals genau dieses Gefühl, dass da für mich ein Licht angezündet wird, dass es hell und ruhig in mir wird. Und auch wenn es mir zwischendurch wieder verlorengeht, blitzt dieses Licht mir seither immer wieder entgegen aus Zeitungsberichten, Büchern und Filmen sowie bei Begegnungen im Alltag.

(Dorothee Markert)