Projekt Beschreibung

Weit über Gleichberechtigung hinaus …

www.evangelischefrauen.de

“Bei der Lektüre des oben genannten Bändchens erinnerte ich mich gleich an eine Veranstaltung auf der Frauenwerkstatt des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2001 in Frankfurt, die vom Verband der Evangelischen Frauen in Hessen und Nassau ausgerichtet wurde mit dem verheißungsvollen Titel: Das Patriarchat ist zu Ende – und dann?! In einem Anspiel luden wir die Teilnehmerinnen ein, sogenannte “Patriarchatsbrillen” aus Pappe aufzusetzen. Erst das Herausdrücken der vorgestanzten Sichtfelder als symbolischer Abschied vom Patriarchat gab ihren Blick frei auf sich und die Welt und die verschiedenen Frauen um sie herum.
Damals kannten wir schon die 1999 veröffentlichte Flugschrift “Liebe zur Freiheit und Hunger nach Sinn”, die ebenfalls im Christel Göttert Verlag erschienen ist und mit der Feststellung beginnt: “Frauen glauben nicht mehr an das Patriarchat, sie lassen sich nicht mehr von der Vorstellung beirren, schwächer und weniger wert zu sein als Männer. Sie haben die Verantwortung für ihr Leben und die Welt übernommen.” Die darin enthaltenen prägnant formulierten Texte sollten Diskussionsprozesse anregen, unterstützen und in Bewegung halten und beschreiben helfen, was es bedeutet, wenn Frauen ihre Weltverantwortung jenseits der zweigeteilten Ordnung wahrnehmen. Die in der Schweiz lebende Theologin und Publizistin Ina Praetorius war von Anfang an in den Netzwerken aktiv, die durch diese Flugschrift initiiert wurden. Ihr nun in der gleichen Reihe erschienenes Bändchen gibt einen sehr guten Einblick in das, was in der Zwischenzeit weiterentwickelt und sichtbar wurde; konkrete Antworten auf die damals beim Kirchentag gestellte Frage: “… und dann?!”
Ina Praetorius ist hier ein kleines Kompendium feministischer Ideengeschichte gelungen, mit dem sie an die Wünsche und Ziele der Frauenbewegung erinnert, die über Gleichberechtigung hinausgehen und mit dem sie all jenen, die davon noch nichts gehört haben, feministische Einsichten und Visionen ganz praktisch nahe bringen will.

Wie bei der Kirchentagsveranstaltung damals die Sichtfelder der Patriarchatsbrille herausdrücken und ein anderes Sehen einüben, dazu lädt Ina Praetorius ein, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass es hier um einen Perspektivwechsel gehe: Nicht Hierarchien sollten umgekehrt werden, sondern ein grundsätzliches Aufräumen sei angesagt, gerade in Zeiten konservierenden und angeblich alternativlosen politischen Handelns. Die Dinge sollten an den ihnen angemessenen Platz gestellt werden.
Am Beispiel des Begriffs der Alleinerziehenden ermutigt Praetorius die LeserInnen, die durch kreatives Fragen hervorgerufene Orientierungslosigkeit zuzulassen, damit sich neue Sichtweisen und neue Worte entwickeln können: “Erzieht die Alleinerziehende wirklich allein? Wenn nicht, wem erlaubt sie, ihr zu helfen? … Ist Patchworkfamilie schon ein passender Begriff oder müssen wir weitersuchen?”
Mit dieser Fragehaltung reflektiert sie weitere Themen wie Gesundheit, Geschichtsschreibung, Umwelt, Kriegsführung, Geburtlichkeit statt Todesfixiertheit und Marktwirtschaft. Ina Praetorius gelingt hier, wie auch an anderen Stellen, kontroverse feministische Standpunkte darzustellen und die LeserIn in diese Denkprozesse mit hineinzunehmen.
Besonders angesprochen hat mich die Idee “intervitaler Gespräche”, eine Methode aus den Anfängen der feministischen Bewegung. Dabei handelt es sich um authentisch geführte Gespräche, in denen sich Menschen austauschen über das, was ihr Leben zusammenhält, ihnen Sinn gibt und was an Fragen offen bleibt und welche Rolle dabei ihre Traditionen spielen und wie sie damit umgehen.
Solche Gespräche sind auch meiner Erfahrung nach ein vielversprechender Weg, die “geschlechtlichen Tiefenstrukturen der Probleme”, die uns heute umtreiben, zu erkennen und dafür Worte zu finden jenseits der zweigeteilten Ordnung – hin zu einer lebensfreundlichen Zukunft für alle. Denn in solchen Gesprächen wird deutlich, dass die Befreiung aus angestammten Rollen nicht nur für Frauen neue Freiheiten ermöglicht, sondern einer neuen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens Raum gibt, die das gute Leben für alle ermöglichen will.
Dieses Buch bietet mit seiner ausführlichen Literaturliste am Ende für solche Gespräche eine ausgezeichnete Grundlage. Herzlichen Dank an Ina Praetorius.”

(Kristin Flach-Köhler)