Projekt Beschreibung

MÄRCHEN ALS SPIRITUELLES ERLEBEN

www.wolfsmutter.com, 19.1.2009

Echte Märchen, Märe, sind Geschichten aus der matriarchalen Zeit. Sie entstanden aus einer allumfassenden Spiritualität, die alles achtet, was ist und nicht ist – das Leben und den Tod. Dagmar Margotsdotter-Fricke begab sich auf Spurensuche nach der Mutterkunde in Märchen.

Wenn wir ein Märchen hören oder lesen, trägt es uns in eine andere Welt, die jedoch zu uns allen gehört, zu der wir aber sonst nicht so leicht Zugang bekommen. Aus ihr kehren wir dann, wie auch immer verändert, zurück. Nicht allen Märchen gelingt das, nur denen, in denen eine spirituelle Erfahrung versteckt ist. Die Autorin Dagmar Margotsdotter-Fricke hatte schon als Kind ein Gespür dafür, welches diese “wahren” Märchen sind.

Nun betätigt sie sich als Forscherin ganz besonderer Art. Es ist nicht möglich, etwas so Ganzheitliches und Umfassendes wie diese Märchen mit Scharfsinn und Analytik auseinander zu nehmen, wie es beim wissenschaftlichen Arbeiten verlangt wird, ohne dass sie Schaden nehmen. Genauso lehnt sie naheliegende, psychologische Deutungen ab. Sie zerstört nicht das Ganz-Sein der Märchen, das mit allen sieben Sinnen wahrgenommen werden möchte. Sie tritt eine Forschungsreise an in die Frühe Zeit, als die Große Mutter noch verehrt wurde und mit ihr die Natur und alle Mütter auf Erden – wovon die Märchen Kunde gaben – und lässt sich von imaginären, edlen Pferden führen. Die Tiere sind ihre Helfer, so wie sie auch Helfer waren in den Märchen der Frühen Zeit. Mit den Begegnungen auf ihrer Zeit-Raum-Reise entfaltet die Autorin ihr großes Wissen um die Sinnbilder der Märchen und die Lebenszusammenhänge, aus denen sie entstanden sind und in denen sie wirksam waren.
So gelangt sie zu Mären aus der Übergangszeit in die patriarchöse Weltordnung, wie etwa “Blaubart”. Hier tötet ein allmächtiger Ehemann seine Ehefrauen. Der letzten jedoch kommen ihre Brüder zur Hilfe. Diese Brüder gehören wie Mütter und Großmütter zum matriarchalen Lebensnetz, in dem sich alle untereinander gegenseitig schützen und unterstützen. In der “Gänsemagd” ist es die Mutter, die es versteht, das Band zur Tochter in der Fremde über Blutstropfen und mit Hilfe des Pferdes Falada zu halten. Sie erspart ihr nicht die Leidenszeit, doch dafür, dass die Tochter sich zuletzt daraus befreien kann, ist allein ihre Existenz entscheidend. Und zwei Könige kommen darin vor. Der alte König richtet sich noch nach der Ordnung der Mutter.
“Hänsel und Gretel” (besser Grete und Hans!) bezeichnet Dagmar Margotsdotter-Fricke als eine Ur-Märe, als ein Einweihungsmärchen, in dem die Schwester den gefangenen Bruder erlöst. Grete ist die Vertreterin der All-Einen, es gibt noch keinen Heros. Die Große Göttin erscheint in der Gestalt der Hexe des Knusperhauses, des weißen Vogels, auch des (Back)-Ofens und des Wassers. Die ganze Erzählung handelt vom Fortgehen, von der Lehrzeit und der Wiederkehr – alle Elemente für eine Initiation in das Wissen vom Leben sind vorhanden.
Viele Wörter unserer Sprache helfen beim Aufdecken. So bezeichnet das Wort mär auch eine Eigenschaft, nämlich “lieb” und “wert”.

“Worte, die mit mär in Verbindung stehen, zeigen eine Dimension von Wachstum und Vermehrung, die unsere materialistische Vorstellung übersteigt: Sie sind von göttlich-irdischer, kosmischer Größe, die den Brüdern Grimm verschlossen geblieben ist. Und vielleicht verbirgt sich hinter dem Begriff mehr eine ganze, archaische Kosmologie?” (S. 52)

Das Wort Königin, so findet die Autorin heraus, lässt sich von dem Wort gyne, was soviel heißt wie “Sippe” und “Stein”, ableiten. Daraus wurde dann über das Wort künne der König. Schließlich spricht sie sich für das Wort Queen aus, weil es keine Ableitung von einem männlichen Begriff ist, sondern ein eigenständiges, weibliches Wort für die “königliche Hoheit” und direkt von gyne hergeleitet.
Auf dem Umschlag des Buches ist die Froschkönigin aus dem gleichnamigen russischen Märchen zu sehen. Aufrecht und mit der rechten Hand Weisungen gebend, steht sie da im Sternengewand und mit der Mondsichel über ihrem Haupt. Wenn sie den linken Ärmel schüttelt, breitet sich ein See aus, wenn sie den rechten Ärmel schüttelt, schwimmen Schwäne auf der Flut. Die Göttin als Schöpferin und Herrin über Leben und Tod. Anhand des Namens vom Gott Merkur zieht die Autorin Rückschlüsse auf das Wesen des Mannes in dieser frühen Zeit. “Mann sein bedeutet im matriarchalen Sinne dichterisch, zärtlich, kommunikativ und gleichzeitig kämpferisch zu sein.” (S. 56)
Vielen Märchen ist gemeinsam, dass die Protagonistin zuerst in einer Art Trance oder Todestrance auf den Weg in das Drüben gebracht wird. Sie wird in einen Stein verwandelt, in einen Glasberg gebannt oder nimmt die Gestalt eines Baumes oder eines Tieres an.

“Im zweiten Teil der Märe haben die Prüflinge dann ihre neuerworbenen Kenntnisse mit nach Hause zu nehmen und in die alltägliche Wirklichkeit einzubringen. Das ist noch einmal eine ganz eigene Aufgabe. Denn ist es nicht auch im wirklichen Leben so, dass die Offenbarung von speziellem, vor allem spirituellem Wissen, mit Geschick und zum richtigen Zeitpunkt geschehen muss, damit dieses von der Gemeinschaft erkannt und vor allem anerkannt wird?” (S. 106)

Am Ende des Buches hat uns Dagmar Margotsdotter-Fricke auf wunderbare Weise davon überzeugt, dass Märchen bedeutsamer sind und uns mehr sagen können als wissenschaftliche Texte, die immer nur einen Ausschnitt und einen bestimmten Wissensstand repräsentieren und obendrein im Laufe der Wissenschaftsgeschichte schon viele lebensfeindliche Gesellschaftstheorien unterstützt haben. Wissenschaftliche Berichte verschwinden in den Ordnern, Märchen nicht, sie sind allgegenwärtig. So, wie die wahren Märchen für ein spirituelles Erleben stehen, steht es dieses Buch auch. “Die gute Mär” ist ein neues, fortschrittliches Buch, das Forschungsergebnisse vorlegt und gleichzeitig spirituelle Wirkung entfaltet. Beim Hören und Lesen spüren wir, was es heißt, in beiden Welten (in der alltäglichen und nicht alltäglichen) und damit im Leben selbst zu Hause zu sein.

(Uscha Madeisky)