Worte und Körper im Kreislauf

Einführungsvortrag Leipziger Buchmesse 22.03.01, Frauen Kultur e.V.

Ich freue mich, in Leipzig zu sein und danke euch für die herzliche Aufnahme. Ich habe mir immer gewünscht, dass die beiden Deutschland wieder zusammenkommen – auch wenn ihr vielleicht denkt: Wir haben aber viele Probleme. Das kann ich mir vorstellen, aber es freut mich trotzdem. Der Eiserne Vorhang war für mich das Symbol des Antikommunismus. Wahrscheinlich fühlten sich viele von euch vom Kommunismus unterdrückt – ich fühlte mich vom Antikommunismus unterdrückt. Das sind zwei verschiedene Dinge, sicher, und ich will sie auch nicht vergleichen. Doch während man viel von der Unterdrückung durch kommunistische Regimes spricht, ist nach dem Ende des Krieges in Vietnam kaum noch die Rede von den Missetaten des Antikommunismus in Chile und anderen Ländern Lateinamerikas, in Griechenland, Spanien, Italien …

Die antikommunistische Ideologie, unter der ich aufgewachsen bin, wurde uns auf geradezu beängstigende Art eingetrichtert. Später sagten meine linken Freunde: Wir müssen die beiden deutschen Staaten akzeptieren. Ich akzeptierte sie, was blieb mir anderes übrig? Aber ich sagte auch: Ich wünsche mir, dass sie eines Tages wieder zusammenkommen – auf friedliche Art, denn es ist richtig und natürlich, dass das, was vom Krieg geteilt wurde, vom Frieden wieder zusammengefügt wird. Vom Frieden, nicht vom Kapitalismus. Ich habe mir nie den Sieg des Kapitalismus gewünscht.

Damit bin ich zum ersten Punkt gekommen, über den ich sprechen möchte. Und zwar: Man kann sich eine Sache auch als möglich vorstellen, ohne den ganzen Rest zu wollen. Wir sind zu sehr daran gewöhnt, totalitär und verantwortlich zu denken. Und dadurch wird das Denken nicht nur eine Last, sondern auch voller Fehler. Wenn wir ein Urteil fällen, eine Entscheidung treffen sollen, meinen wir alles bedenken zu müssen: alle Aspekte, alle Konsequenzen. Aber unser „Alles“ ist sehr beschränkt und lässt ganz viele neue Möglichkeiten außen vor. So etwas nennt man: Denken nach Modellen. Oft führt diese Art zu denken dazu, dass wir uns an den Unmöglichkeiten den Kopf einrennen oder ganz in die Irrealität eintauchen. Ich schlage vor, nicht nach Modellen, sondern nach Wünschen und neuen Möglichkeiten zu denken.

Die neuen Möglichkeiten verbergen sich in der Realität wie Veilchen in den Straßengräben auf dem Land. Zu dieser Jahreszeit ging ich als kleines Mädchen mit meinen Freundinnen Veilchen pflücken. Und diese Sache, nämlich nach neuen Möglichkeiten zu suchen anstatt sich den Kopf an den Unmöglichkeiten einzurennen, die habe ich durch die Politik der Frauen gelernt. Es gibt nämlich eine Politik der Frauen, die die Frauen gemacht haben und weiterhin machen, um die Welt bewohnbarer und das Zusammenleben ziviler zu gestalten. Wir von der Libreria delle donne di Milano haben diese Politik „primäre Politik“ genannt, in einem Text, der auch auf Deutsch erschienen ist: „Das Patriarchat ist zu Ende“ (Rotes Sottosopra).

In den letzten 30 Jahren meines Lebens war ich Zeugin und Mitbeteiligte einer revolutionären Veränderung der Beziehungen zwischen Frauen und Männern: Die Herrschaft der Männer über die Frauen hat keinerlei Rechtfertigung mehr; das Vertrauen der einzelnen Frau zu sich selbst und zu den anderen Frauen wächst; immer weniger lassen wir uns vom Denken und Wollen der Männer leiten.

Wenn dieser Beginn einer freien Bedeutung der Geschlechterdifferenz in Zukunft bestätigt und weiterentwickelt wird, wird das eine Veränderung für die Menschheitsgeschichte bedeuten.

Gewiss, unter soziologischen und psychologischen Gesichtspunkten zeigen sich noch viele Überreste der alten patriarchalen Gesellschaft, und viele Fragen sind noch ungeklärt und ungewiss. Aber die symbolische Ordnung, das heißt, der Sinn, den die Dinge annehmen, gibt der männlichen Herrschaft nicht mehr Recht und arbeitet zu Gunsten der Freiheit der Frauen. (Man braucht da nur an den Extremfall der Taliban in Afghanistan zu denken. Ich habe keine Beweise, aber ich bin sicher, dass viele der Frauen, die dieser Interpretation des islamischen Gesetzes unterworfen sind, wissen, dass das eine falsche Interpretation ohne Zukunft ist.)

Diese Veränderung – eine große Veränderung angesichts dessen, was man schon sieht, und vielleicht noch viel größer angesichts dessen, was noch zu sehen bleibt – hat stattgefunden, indem wir den Wünschen vertraut und neue Formen politischer Praxis erfunden haben. Etwa die Praxis der Selbsterfahrung, wo Frauen in kleinen Gruppen das Wort ergriffen und Bewusstwerdungsprozesse in Gang setzten, oder die Praxis der Beziehung an sich und für sich, die Praxis des Affidamento, die Praxis, von sich selbst auszugehen. Zu diesem Thema, das ich hier aus Zeitgründen nicht ausführen kann, verweise ich auf das Buch „Wie weibliche Freiheit entsteht“(Orlanda Frauenverlag Berlin).

Meine männlichen Altersgenossen träumten von der Revolution und kämpften mit denselben Mitteln wie der Machtapparat, den sie zerschlagen wollten. Diejenigen, die am meisten gaben, und die Verrücktesten sind jetzt tot, die anderen findet ihr heute in den Machtapparat integriert.

Als ich von der 68er in die Frauenbewegung kam, entdeckte ich das Geheimnis, wie man Freiheit gewinnt. Die Beziehungen mit anderen – Frauen und Männern – bringen einen Zugewinn an Freiheit nicht dadurch, dass man mit den anderen zusammen etwas Bestimmtes macht, sondern dadurch, dass man durch diese Beziehungen bei sich selbst etwas verändert und freisetzt. Die Realität bleibt oft auf die Unfreiheit festgenagelt, weil ich auf mich selbst in der Unfreiheit festgenagelt bleibe. Wir Feministinnen haben nicht die Männer verändert, sondern unsere Beziehungen zu den Männern. Und infolgedessen haben die Männer und die Dinge begonnen, sich zu verändern.

Ich bin zur Leipziger Buchmesse gekommen, um mein Buch „Die Menge im Herzen“ vorzustellen, in Deutschland erschienen im Christel Göttert Verlag Rüsselsheim. Der Titel stammt aus einem Gedicht von Emily Dickinson „Die Menge im Herzen / keine Polizei kann sie auflösen“. In meiner Interpretation sind die Menge im Herzen die großen Wünsche. Ich fühle mich von den großen Wünschen angezogen, die sich im Herzen gemeiner Frauen und Männer verbergen. Mich faszinieren zum Beispiel Groschenromane: Das ist qualitativ schlechtes Zeug, doch der Traum von der großen Liebe, den die Leserin hat, verwandelt es in etwas Wertvolles.

Meine politische Leidenschaft besteht darin, Handlungsmöglichkeiten zu erforschen und bekannt zu machen, die nicht den Besitz von Macht – ob legitim oder illegitim – über andere voraussetzen. Das geht, und zwar mit der Größe der Wünsche und der Qualität der Beziehungen: keine instrumentellen, zweckorientierten Beziehungen, sondern Beziehungen um ihrer selbst willen. Seit den 68er-Zeiten ist mir die Lust geblieben, in erster Person zu handeln und mich nicht repräsentieren zu lassen und auch nicht die anderen Frauen zu repräsentieren. Die Unterschiede zwischen Frauen sind so wichtig, dass ich keine andere repräsentieren kann, auch nicht mich selbst: Es gibt auch einen Teil von mir, den ich nicht kenne.

Ich bin nicht gegen Gleichheit, aber mir gefällt die Politik nicht, deren Horizont in der Verwirklichung der Gleichheit besteht. Noch weniger gefällt mir der Feminismus der Gleichheitsforderungen, denn er macht die Männer zum Maßstab für Frauen. Alle – Männer wie Frauen – wollen mehr sein oder haben als die anderen. Die Politik der Gleichheit setzt beim „Weniger“ an, beim Neid. Es ist besser, beim Wunsch nach „Mehr“ anzusetzen und bei den Unterschieden, die uns so unvergleichlich machen.

Eben habe ich von den gemeinen Männern und Frauen gesprochen. Das möchte ich präzisieren. Alle Menschen haben etwas gemein, aber keiner ist keinem in allem gemein. Das sagt man oft, aber ist es wahr? Es wird wahr, wenn es uns gelingt, Worte und Erfahrung in einen Kreislauf zu bringen, in einen circolo virtuoso (das Gegenteil von Teufelskreis), einen „Engelskreis“ von Worten, die der eigenen Erfahrung immer treuer sind, welche ihrerseits immer bedeutungsvoller wird. Wenn sich dieser Kreis bildet, empfinden wir Freude. Jahrelang glaubte ich, diese Freude sei nur einer Minderheit von Künstlern und Künstlerinnen vorbehalten, aber ich habe entdeckt, dass auch eine gemeine Frau sie erleben kann, auch ein Mann, warum nicht? Ich habe sie mit der Politik der Frauen entdeckt, besser gesagt wiederentdeckt, denn die erste Entdeckung liegt viele Jahre zurück: Das war, als ich mit meinen Freundinnen Ringelreihen spielte.

Übersetzung: Traudel Sattler, Mailand