Projekt Beschreibung

Sich staunend wandeln

Oya – anders denken. anders leben, Sept./Okt. 2016

Ein Ort des Wandels, wie beispielsweise Oya einer ist, will Neues in die Welt bringen. Oft passen dann auch alte Begriffe nicht mehr. Spätestens wenn es um ständlich wird, das Neue verbal zu treffen, entstehen Wörter, die es zuvor nicht gab. In Oya ist zum Beispiel die “konviviale” Technik ein gängiges Fremdwort, das sich mit “lebensförderlich, selbstermächtigend und zugleich gemeinschaftlich” übersetzen ließe.

Sprache ist ein wichtiges Ordnungssystem für das Denken, gerade in Zeiten von Auf-, Um- und Durchbrüchen. Nicht immer aber sind es unbedingt neue Wörter, die man für den Wandel braucht. Das kleine Büchlein “ABC des guten Lebens” steuert vor allem existierende Wörter neu an, ruft sie ins Gedächtnis und verleiht ihnen eine andere Nuance oder rüttelt kräftig an eingeschliffenen Deutungen. Schon die Auswahl macht Lust, dem guten Leben nachzuspüren. So sind zum Beispiel “Anfangen”, “Staunen” oder “Gabe”, aber auch “Begehren”, “Bezogenheit” und “Aufräumen” Teil des Glossars. Das Staunen etwa erkennen die Autorinnen als einen Schlüssel zum Anderen, um das, was “Dazwischen” liegt, zu sehen und zu verstehen. “Freiheit” setzen sie nicht mit “Unabhängigkeit” gleich, sondern umschreiben sie so: “sich dem eigenen Begehren entsprechend in den Gang der Welt einzubringen, die Verantwortung für das eigene Geborensein zu übernehmen”. Unabhängig zu sein, halten sie für unrealistisch. Hilfreich erscheint ihnen, eine Haltung des “Sowohl-als-Auch” zu praktizieren. Um Grundbedürfnisse zu erfüllen, bedürfe es einer “Daseinskompetenz”, die nicht nur das “Essen” oder Schlafen, sondern zum Beispiel auch das “Scheißen” umfasst. Wer dann auch der “Fülle” seiner Begehren nachgehen kann – die Assoziation von Begehren mit sexueller Lust deutet an, worum es geht, deckt sich allein aber nicht mit dem Begehren im Sinn der Autorinnen – der oder die nähere sich dem guten Leben.

Die kurzen Texte sind das Kondensat eines langen Dialogprozesses zwischen einer Gruppe von Frauen aus Italien, der Schweiz und Deutschland, dem viele weitere, ausführlichere Publikationen voran- und nachgingen. Das Buch selbst wurde zuletzt 2015 neu aufgelegt. Mit ihm ist es gelungen, die Grundgedanken der Care-Ökonomie äußerst anschlussfähig zu beschreiben, ohne dabei ihren Sinn zu verkürzen.

Ich habe das Buch gemeinsam mit meiner Mutter gelesen, und es lässt sich seither als ein verbindendes Element zwischen uns bezeichnen, auf das wir uns immer wieder beziehen. Ein schöner Übergang einer manchmal sehr abstrakten, akademischen Debatte in den sorgenden und erwerbswirtschaftlichen Alltag ist damit gelungen.

(Anja Humburg)